Freitag, 4. Februar 2011

Im Rehabilitationszentrum "Svaté Anny"

Sie ist gestürzt. Das hätte nicht passieren dürfen. Jetzt liegt sie hier in diesem Krankenhaus, die Betten sind hart, das Essen schlecht, die Schwestern unfreundlich. Außerdem müsste sie dringend ihre Tochter anrufen, vielleicht kann sie schnell herkommen und mit ihr zur Toilette gehen, alleine kann sie es noch nicht. Sie fragt eine Schwester, sehr höflich, ob sie denn kein Telefon habe, das sie eben benutzen könne…?, doch die ist kurz angebunden und bügelt die Anfrage unwirsch ab. Na ja, sie haben eben einen harten Job, immer viel zu tun, aber etwas freundlicher könnten sie ja schon sein. Macht nichts, noch arbeitet die Tochter ja sowieso, sie ist Zahnärztin in einer ambulanten Klinik. Am Nachmittag kommt sie. Wie spät ist es eigentlich? Ach, da kommt ja Evi, die junge Freiwillige aus Heidelberg, oder war es Dresden? Egal. Wichtig ist, dass sie vielleicht ein Handy dabei hat. Wie? Zu Hause vergessen. Ach so. Sie dachte, diese jungen Leute würden ihre Mobiltelefone überall hin mittragen. Sie hätte es so dringend gebraucht, die Tochter kann ja gar nicht arbeiten, sie hat den Finger gebrochen, da kann sie ja genauso gut ein bisschen früher kommen. Sie hat noch die Schlüssel zu ihrer Wohnung, sie muss sie unbedingt fragen, ob denn auch abgeschlossen ist. Da kann ja Gott weiß was passieren. Da kommen die Schwestern mit dem Essenswagen herein. Schon wieder? Sie hat doch eben erst zu Mittag gegessen. Kartoffelbrei mit Hähnchen gab es, eigentlich nicht schlecht, aber der Salat hat gefehlt. Das Mädchen begleitet sie in den Vorraum, in dem gegessen wird. Sie ist ihre Fast-schon-Schwiegerenkelin, sie wird bald ihren Enkel heiraten. Welchen nochmal? Ist ja unwichtig. Ein sehr nettes Mädchen jedenfalls. Aber unbarmherzig. Sie füttert die alte Dame (als ob sie das nicht alleine könnte!) und besteht darauf, dass sie ihr Wasser trinkt. Dabei hat sie doch gar keinen Durst mehr! Warum müssen sie alle immerzu nur quälen? Und warum leiht ihr niemand ein Handy? Bei der Oberschwester hat sie auch keinen Erfolg. Heutzutage sind alle Menschen so misstrauisch. Haben wohl Angst, dass das, was man an ihrem Telefon bespricht, gegen sie verwendet werden kann, dass sie politische Unannehmlichkeiten bekommen. Dabei will sie doch nur die Tochter anrufen, sie soll den Schlüssel mitbringen. Sie hat einen Nachtstuhl gemietet, der ist abgeschlossen. Wenn die Tochter den Schlüssel nicht mitbringt, lässt sie niemand auf den Nachtstuhl gehen, und von den Windeln macht sie nur so ungern Gebrauch. Da kommen schon wieder die Schwestern und nehmen den noch halbvollen Mittagsessensteller wieder mit. Ob sie nicht ihre Tochter kennen würden und vielleicht gesehen hätten? Sie ist ja Zahnärztin, vielleicht war die Schwester schon mal bei ihr in Behandlung. Möglich wäre es ja. Aber die Schwester reagiert überhaupt nicht auf die nette Anfrage. Die versteht kein Deutsch. Ob die junge Dame ihre Enkelin wäre? Ja, das ist meine Enkelin, antwortet sie. Die Enkelin schenkt immer wieder ihr Glas ein, „damit Sie wieder zu Kräften kommen“, sagt sie. Bei so viel Naivität kann die alte Dame nur milde lächeln. Aber sie tut ihr den Gefallen und trinkt das Glas ganz aus, sie soll wegen ihr kein schlechtes Gewissen haben. Nicht, dass sie noch Schwierigkeiten bekommt. Sie ist so ein liebes Mädchen. Schade, dass sie ihr gar nichts anbieten kann. Irgendwo muss sie noch Waffeln haben, sie weiß aber gerade nicht genau, wo. Überhaupt, wo bleibt eigentlich die Tochter, sie müsste doch schon längst da sein. Sie muss unbedingt etwas sehr Wichtiges besprechen, was, fällt ihr gerade nicht mehr ein, aber die Tochter wird schon Bescheid wissen. Das Mädchen verabschiedet sich, es fährt wohl wieder nach Hause, nach Frankfurt. Hoffentlich findet es auch den Weg, nicht, dass es sich verfährt! Es sieht so verwirrt aus...

Freitag, 3. Dezember 2010

Ein Wochenende

Es gibt eigentlich keinen triftigen Grund, an einem kalten Samstagmorgen mit dem Zug in das kleine Dorf Řehlovice zu fahren. Es sei denn, man will wie wir zum deutsch-tschechischen Kulturbrunch im ortsansässigen Kulturzentrum. Und ganz offensichtlich hat ein Großteil der Zugpassagiere denselben Plan. Kaum sind wir eingestiegen, gibt es ein großes Hallo: Da sind die Freiwilligen aus der Gedenkstätte in Theresienstadt mit ihrem Vorgänger und ihrem Mitbewohner, der in Tschechien Deutsch unterrichtet; da ist die Koordinatorin von ASF und Servitus in Tschechien; die Freiwillige vom deutsch-tschechischen Kulturbüro in Ustí nebst Vorgänger; amerikanische Studenten, die gerade in Prag wohnen und die irgendjemand eingeladen hat sowie diverse aktuelle und ehemalige Aktive aus dem Kultur- und Freiwilligenbetrieb. Man begrüßt sich, man duzt sich, redet Deutsch, Tschechisch und Englisch und freut sich auf das gesellschaftliche Highlight, das einen in dem (laut Website) liebevoll restaurierten Gutshof erwartet.

Tatsächlich gehen in im Gut Řehlovice Verfall und Improvisation eine Verbindung ein, die allerdings, verknüpft mit der romantischen Lage inmitten von verschneiten Feldern, sehr charmant wirkt. Trotz Anmeldung stehen wir nicht auf der Gästeliste; macht nichts, wir dürfen trotzdem rein. Wir betreten einen Raum, der durch ein paar alte Schränke in zwei Hälften geteilt ist: Dahinter stehen Betten, auf denen weit gereiste Kulturfreunde bereits übernachtet haben, davor stehen allerlei Stühle und Sofas sowie ein Podest, das später als Bühne fungieren soll. Im nächsten Raum, einem hohen Backsteingewölbe, sind das Buffet und ein bunt zusammengewürfeltes Sammelsurium aus Tischen und Stühlen aufgebaut. Auf den Treppen findet sich letztendlich doch noch ein Sitzplatz für uns. Das Buffet ist spektakulär: In mindestens vier Gängen wird eine kulinarische Reise in die Vergangenheit des deutsch-tschechischen Grenzgebietes unternommen. Dass es sich dabei nicht gerade um kalorienarme Trennkost handelt, versteht sich von selbst.

Bald ist die Luft erfüllt von Essgeschirrgeklapper und angeregten Gesprächen. Man kennt sich, war schön öfter an diesem wunderbaren Ort, reist überhaupt gerne ins ländliche Böhmen, wo die Zeit stehen geblieben zu sein scheint und die Uhren langsamer ticken. Kultur gibt es natürlich auch: Ein Schulorchester aus der Region darf sich auf der Bühne erproben, später wird auf Deutsch und Tschechisch über Beziehung zwischen Kunst und Zeitgeist diskutiert. Ein hochbrisantes Thema; noch etwas mehr interessiert mich allerdings zugegebenermaßen das Kuchenbuffet, das inzwischen aufgetragen wird. Und natürlich die Unterhaltung mit meiner direkten Vorgängerin in der Projektarbeit in Brno, Silvia. Es ist schon seltsam, wie dieselben, uns vorher unbekannten Menschen, durch den Freiwilligendienst ein fester Bestandteil unser beider Leben geworden sind. Außerdem ist es erleichternd, zu erfahren, dass auch sie Machtkämpfe mit Dusan aus dem Wohnheim ausstehen musste und Frau R. aus dem Altenheim nicht nur bei meinen Besuchen nach 15 Minuten einschläft.

Als wir uns endlich auf den Weg nach Prag machen, ist es schon dunkel. Es ist Samstagabend und wir fahren noch nicht zurück nach Brno. Wir sind eingeladen in eine internationale WG nahe der Prager Burg. Ein Programmierer aus Italien wohnt hier, zwei Studenten aus Frankreich und Wales und zwei deutsche Freiwillige, von denen eine, Tine, heute Geburtstag hat. Die nach und nach herbeiströmenden Partygäste bekommen allesamt erst mal ein Bier in die Hand gedrückt und verteilen sich in der ganzen (beneidenswert großen und modernen) Wohnung. Chloé, die französische Mitbewohnerin, erklärt als erstes ihre 10-Kronen-Regel: Wer nicht dieses Bußgeld zahlen will, muss darauf achten, in Anwesenheit Nicht-Deutscher ausschließlich Englisch (oder Tschechisch ;)) zu reden. Fast immer also. Denn die Festgemeinschaft ist eine bunte Mischung aus Freiwilligen und Studenten aus allen vier Himmelsrichtungen. Gesprächsthemen sind schnell gefunden: Tschechien, Prag, die jeweiligen Herkunftsländer, die Arbeit, die immer gleichen Probleme: Zu viel Arbeit, zu wenig Arbeit, die tschechische Sprache. Nie vergisst man, sein Gegenüber herzlich einzuladen, in der heimlichen Hoffnung, ebenfalls ein Dach über dem Kopf angeboten zu bekommen.

In der Küche werden Berge von Spagetti mit Fertigbolognese fabriziert. Nicht, dass ich noch Hunger hätte… aber was solls. Inzwischen ist man auf Wein und Sekt umgestiegen, die Stimmung wird ausgelassener. Auch bei der Gastgeberin, die jetzt ihre Geschenke auspackt. Darunter ist auch ein Notizbuch, das bisher nur den Titel von Tine´s zukünftigem Bestseller enthält: „European Mojito“, eine Vergleichsstudie, in der sie die besten Cocktailbars auf dem ganzen Kontinent ausfindig machen will. Sie hat bereits mit den Recherchen begonnen. Nach einiger Zeit gibt sie dem allgemeinen Drängen nach und hält eine feierliche Ansprache: „ I appreciate your coming. Thanks for turning this evening into something special. We will rule the world!!“ Begeisterter Beifall der Anwesenden. Remo, einer der Theresienstadtfreiwilligen, stellt sachlich fest: “Es sind 11 Nationalitäten da heut Abend.” Ungläubige Gesichter. Mal nachzählen: Tschechien, Kanada, Bulgarien, Frankreich, Großbritannien, USA, Rumänien, Schweden, Österreich, Italien, Türkei, Deutschland. Tatsächlich.

Die Deutschen, obwohl deutlich in der Überzahl, haben es längst aufgegeben, zu Deutsch zu wechseln - auch wenn sie unter sich sind. Dann gibt es auch noch Apple-Crumbles und dreierlei Schokokuchen und ich überlege mir, wie gut sich so viele unterschiedliche Kulturen beim Thema Essen verstehen. Um 22.00 zieht die gesamte Festgemeinschaft aus. Nachtruhe in der Altbauwohnung! Nicht aber im Club „Akropolis“, wo noch einiges an pivo und mojito fließen wird.

Der nächste Tag beginnt spät und mit kollektivem Herumgammeln. Dazu gibt es genügend Möglichkeit in der Wohnung, die sich über Nacht in ein Matratzenlager verwandelt hat . Gespräche über die EU (Yannick prophezeit ihr ein langes Leben, währned Linnea schon ihren Untergang nahen sieht) und darüber, was „verarschen“ auf verschiedenen Sprachen heißt. Dazu werden die Reste vom Vortag gegessen. Das Leben kommt mir gar nicht hart vor. Und Mutikulti kann gar nicht so tot sein.

Sonntag, 14. November 2010

Exklusive Vorveröffentlichung: Artikel für die ASF-Homepage

Aus dem Leben einer hart arbeitenden Freiwilligen, Teil II: Man hört nur mit den Augen gut

Mein Freiwilligendienst in Tschechien hat mich in meinen Grundfesten erschüttert. Prinzipien, die ich für unumstößlich hielt, gelten auf einmal nicht mehr. So war ich zum Beispiel immer davon ausgegangen, dass Zuhören und Verstehen in einem logischen, konsekutiven Zusammenhang stehen. Dabei ist, wie ich bald feststellen musste, zumindest ein Zuhören ohne Verständnis sehr wohl möglich.

Zuhören gehört, neben leichten Arbeiten im Haushalt und kleinen Besorgungen, offiziell zu meinen Aufgaben in der offenen Altenarbeit für die jüdische Gemeinde der Stadt Brno. Zum Beispiel für Frau D. Frau ist 84 Jahre alt; sie ist klein und braunhaarig, ihre Bewegungen sind so langsam und vorsichtig wie die einer Frau, die eine große Last mit sich herumträgt. Ihre kleine Mietwohnung in einem Plattenbau am Stadtrand verlässt sie nur sehr selten. Wenn mich nun also Frau D. bittet, Geschirr zu spülen oder Staub zu saugen, kann sie mir das mithilfe einfacher Gesten und Gebärden leicht verständlich machen. Erst wenn wir uns danach an dem kleinen runden Tisch in ihrer kalten Küche niederlassen und sie anfängt, aus ihrem Leben zu erzählen, wird es problematisch. Denn Frau D. spricht nur Tschechisch.

Ich will mich hier nicht zu einer Kampfschrift gegen die tschechische Sprache hinreißen lassen – deshalb spreche ich hier nicht über unmögliche Konsonantenhäufungen, verliere kein Wort über die 7(!) Fälle des Tschechischen und die gefühlten 2000 unterschiedlichen Deklinationsmuster, nach denen sie gebildet werden, und erwähne mit keinem Wort die unzähligen Ausnahmen und Sonderfälle, die man auswendig lernen könnte.Tschechisch-einfach-unmoeglich

Es genügt wohl, wenn ich sage: Meist gebe ich schon nach fünf Sätzen auf, Frau D. verstehen zu wollen. Zuhören muss ich aber immer noch, und das ist viel schwerer als vermutet. Es reicht aber bei weitem nicht aus, durch zustimmende Bemerkungen Aufmerksamkeit zu simulieren und die Mimik des Gegenübers exakt zu kopieren. So kann ein Lächeln, wenn es schüchtern und verträumt ist, ein Hinweis auf eine schöne Erinnerung sein und somit eine unbedingte Aufforderung, sich anzuschließen. Ist das Lächeln allerdings gequält, könnte nichts falscher sein, als es zu erwidern. Hier verbergen sich oft, übertüncht von einer dicken Schicht Sarkasmus und Bitterkeit, jene Erinnerungen, die sonst zu sehr schmerzen würden.

Nach einer Tasse Instantkaffee gehen wir spazieren, und während uns die Novembersonne vielleicht zum letzten Mal in diesem Jahr ins Gesicht scheint, fühle ich mich ganz erschöpft vom vielen Zuhören und frustriert vom wenigen Verstehen. Frau D. aber erzählt unbeirrt weiter. Je länger ich aber dem schier endlosen Redefluss der alten Dame lausche, desto wahrscheinlicher erscheint es mir, dass ihr vielleicht genau das schon reicht. Außerdem entdecke ich nach und nach umgekehrt eine Art des Verstehens, die ohne Zuhören funktioniert.
pittoreske-Plattenbauten
Worte wie „Terezin“ (Theresienstadt) und „koncentrační tábor“ (Konzentrationslager) kenne ich. Ich verstehe sogar, was Frau D. von ihrem Hund erzählt: Bei ihrer Rückkehr fand sie das treue Tier tot in seiner Hundehütte, wo es drei Jahre lang wartend gelegen hatte. Was Frau D. aber in diesen drei Jahren erlebt hat -Hunger, Kälte, Demütigungen- könnte ich auch in einem Geschichtsbuch nachlesen. Und würde wahrscheinlich genauso wenig verstehen.

Das vorsichtige, schmerzhafte Lächeln ist da viel aufschlussreicher, es verleiht den Worten etwas Greifbares. Es ist das Resultat eines Lebens, das sich um eine schreckliche Erinnerung rankt. Ums Verdrängen, Beschönigen, darüber Reden – um den lebenslangen Kampf mit den Gespenstern im eigenen Kopf. So gesehen ist die bittere Ironie vielleicht sogar ein kleiner Triumph, ein Modus vivendi, der sich nur mit reichlich zeitlichem Abstand einnehmen lässt.

Das Lächeln ist ein unstetes. Manchmal verschwindet die Bitterkeit, und ein echtes Lachen breitet sich auf Frau D.s Gesicht aus. Das passiert, wenn das Wort „manžel“ (Ehemann) fällt. – Ihren späteren Gatten hat Frau D. im Alter von 17 Jahren in Theresienstadt kennen gelernt. Der „manžel“ ist jetzt schon seit 18 Jahren tot.

Er hat sie sicher verstanden, seine Frau D. Vielleicht als Einziger. Ich kann nur versuchen, immer genauer hinzuhören und zu –sehen, um dem Verständnis ein Stückchen näher zu kommen.

Exkusiver Vorabdruck: Artikel für die RNZ

„Und was machst du nach der Schule?“
Wie wohl jedem Abiturienten wurde auch mir diese Frage im letzten Jahr häufig gestellt. Lange habe ich mich vor den Reaktionen auf meine Antwort gefürchtet: Sie reichten von ungläubigen Gesichtern über geheucheltes Interesse bis zu Unverständnis oder Mitleid. Ich werde bis August nächsten Jahres in Tschechien leben und in sozialen Projekten arbeiten.

Die Republik Tschechien ist im Bewusstsein vieler Deutscher langweilig und wenig attraktiv. Und das, obwohl manch einer nicht viel mehr als Karel Gott, die wichtigsten Biersorten und eine unmögliche Sprache mit diesem Land in Verbindung bringen kann. Warum ist das Interesse der Deutschen an unserem Nachbarn so gering?

Um Antworten auf diese Fragen zu finden, musste ich zunächst einmal an meinem eigenen Bild von diesem Land arbeiten. Denn, offen gestanden: Auch ich hatte mir Tschechien nicht unbedingt als Ziel meines Freiwilligendienstes auserkoren. Auf der Suche nach einer geeigneten Art und Weise, ein Jahr lang im Ausland zu arbeiten, stieß ich auf die Organisation „Aktion Sühnezeichen Friedensdienste“. Diese Organisation wurde kurz nach dem zweiten Weltkrieg gegründet. Bis heute schickt sie junge Menschen ein Jahr lang in Länder, die besonders stark unter den Nationalsozialisten gelitten haben, um dort für eine friedlichere Zukunft einzutreten. Fürsorge für die Opfer des Nationalsozialismus gehört dort ebenso zu ihren Aufgaben wie der Kampf gegen jede Art von Diskriminierung. Diese Verbindung von praktischer sozialer Arbeit und politischem Anspruch gefiel mir, und ich bewarb mich. Als mir nach einem Auswahlseminar und vielen Wochen des bangen Wartens dann mein Projektland und mein zukünftiger Einsatzort mitgeteilt wurde, wurde mir bewusst, wie wenig ich selbst über dieses Land wusste: Was für eine Währung haben die denn da? Was für einen Regierungschef? Welche Hauptreligion?

Inzwischen bin ich seit fünf Wochen in Tschechien und wenigstens etwas schlauer: Man zahlt in tschechischen Kronen, der aktuelle Ministerpräsident heißt Petr Nečas und ein Großteil der Bevölkerung gehört keiner Religion an. Außerdem wird mir langsam bewusst, dass ich meine Vorstellungen eines sinnvollen Freiwilligendienstes gerade hier in beispielhafter Weise verwirklichen kann.

Ich bin in drei Projekten tätig, die zusammengenommen die ganze Bandbreite der ASF-Projektarbeit abdecken: Bei den Besuchen, die ich den älteren Mitgliedern der jüdischen Gemeinde hier in Brno abstatte, werde ich immer wieder direkt mit der Vergangenheit konfrontiert. Viele meiner Klienten sprechen Deutsch, und die wenigsten verbinden schöne Erinnerungen damit. So erwähnte eine Dame eher beiläufig in einem Nebensatz, dass sie als Kind zwei Jahre lang im Konzentrationslager Theresienstadt interniert war. Es wurde deutlich, dass sie auf dieses Thema nicht näher eingehen wollte. Scheinbar fehlen ihr noch immer die Worte für das Erlittene. Bei wieder anderen Hausbesuchen habe ich das Gefühl, dass gerade das Reden über die Vergangenheit für die Betroffenen von großer Bedeutung ist. Ich spüre, dass es gut ist zuzuhören und auf diese Weise Leid zu teilen und das Gefühl der Einsamkeit zu verringern.

Bei einem Projekt für Romakinder begegne ich einer Minderheit, der gerade in Tschechien offener Rassismus entgegenschlägt. Der Zugang zu Bildung und Arbeit wird dieser Minderheit systematisch erschwert. Nur wenige Roma schließen eine Schulausbildung ab, die Wohnsituation ist katastrophal, die Arbeitslosigkeit liegt bei bis zu 90%. Das Projekt in Brno, in dem die Kinder ihre Freizeit verbringen und unter Anleitung lernen können, hat Modellcharakter. Schade, dass diesem Beispiel bisher kaum einer folgt.

Dasselbe gilt für das Wohnheim für Menschen mit Behinderung, in dem ich zwei Tage pro Woche verbringe. Acht Menschen leben hier in familiärer Atmosphäre bei ständiger Betreuung durch zwei Assistenten zusammen. Doch diese Art von sozialer Institution ist in Tschechien noch ein Einzelfall. Weitaus üblicher sind die riesigen anonymen Gebäudekomplexe aus der Zeit des Kommunismus, in denen Menschen mit Behinderung untergebracht sind.

Inzwischen sattelfest in Sachen deutsch-tschechischer Geschichte, kamen mir immer mehr Bedenken, wie mein Einsatz von Seiten der Tschechen wahrgenommen werden mag. Immerhin war die deutsch-tschechische Geschichte oftmals eine der gegenseitigen Verletzungen. Ich werde jedoch immer wieder überrascht: Einer älteren Dame kamen die Tränen, als ich ihr von meiner Arbeit erzählte und von Verantwortung für eine friedlichere Zukunft sprach. Wie sich später herausstellte, war ihr Vater im Konzentrationslager ums Leben gekommen.

Ich erlebe auch, dass gerade die junge Generation der Tschechen Deutschland gegenüber sehr aufgeschlossen ist. Schließlich ist Deutschland der wichtigste Handelspartner und deutsche Sprachkenntnisse wirken sich positiv auf die berufliche Karriere aus.

Ja, die tschechische Sprache ist schwer zu erlernen und ja, es gibt schönere Anblicke als den der Plattenbausiedlung, in der ich wohne. Aber es gibt noch viel zu tun, und kleine Erfolge und Dankbarkeit in meinem Arbeitsumfeld erfreuen mich jeden Tag aufs Neue. Außerdem hat das bescheidene Tschechien viel mehr zu bieten, als man vermuten würde: Naturschönheiten und Baudenkmale, Gastfreundschaft und ein brodelndes kulturelles Leben, kulinarische Höhenflüge – und ja, auch das Bier ist hier besonders gut. Insgesamt kann ich sagen, dass ich jetzt an keinem anderen Ort lieber wäre.

Die Aktion Sühnezeichen Friedensdienste ist ein gemeinnütziger Verein und auf Spenden angewiesen. Gerade für die osteuropäischen Länder ist es schwierig, Förderer zu finden. Nähere Informationen finden sie unter www.asf-ev.de

Nur so zur Info: Deutsch-tschechische Geschichte im Schnelldurchgang

Seit über 800 Jahren lebten Deutsche in den Teilen Böhmens und Mährens, die auch als Sudetenland bezeichnet werden. Während seiner Zugehörigkeit zum Kaiserreich Österreich-Ungarn war die deutsche Kultur dominierend. Als nach dem zweiten Weltkrieg die unabhängige Tschechoslowakei gegründet wurde, fühlten sich die Deutschen benachteiligt. Es entstand unter anderem die Sudetendeutsche Partei, die Hitler nahestand und 1938 bei Kommunalwahlen 90% der sudetendeutschen Stimmen erhielt. Wenig später wurde in Abwesenheit der tschechoslowakischen Regierung im Münchner Abkommen beschlossen, die von Sudetendeutschen bewohnten Gebiete ins Deutsche Reich einzugliedern. Infolge dessen wurde auch der Rest der Tschechoslowakischen Republik als „Reichsprotektorat Böhmen-Mähren“ Deutschland einverleibt. Die Besatzungsmächte begingen dabei immer wieder grausame Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung. Nach der Niederlage Deutschlands kam es überall im Land zu gewaltsamen Ausschreitungen gegenüber Deutschen, der sog. „wilden“ Vertreibung. Noch im gleichen Jahr wurde die Enteignung und Ausweisung aller Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit in den Beneš-Dekreten festgelegt. 2002 kritisierte Vaclav Havel die „wilden“ Vertreibungen und erntete dafür heftige Kritik. Bis heute sorgt die Forderung des Vertriebenenverbandes nach Aufhebung der Beneš-Dekrete für kontroverse Diskussionen.

Dienstag, 5. Oktober 2010

Aus dem Leben einer hart arbeitenden Freiwilligen - Teil I

Ein bisschen mulmig ist mir schon zumute, als ich vor dem Behindertenwohnheim „Zabovreska“ im Brünner Stadtteil Pisarky stehe. Die hehren Ziele, mit denen ich hergekommen bin (etwas Sinnvolles tun, helfen nach Bedarf, Am-Rande-der-Gesellschaft-Stehende unterstützen), erscheinen mir plötzlich recht utopisch. Weder bin ich der Sprache mächtig, noch habe ich besonders viel Erfahrung mit dieser Art von Arbeit. Verschüchtert mustere ich die graue Fassade des 2-stöckigen Plattenbaus, in dem die acht Klienten leben, um die ich mich das nächste Jahr über kümmern soll. Doch da wird die Gartenpforte aufgestoßen, eine junge Frau kommt herein, sagt, dass sie K. heißt, und nimmt mich zur Begrüßung herzlich in die Arme. „Aber ich kann leider nur wenig Tschechisch“, stottere ich, völlig überrumpelt. „To nevadí!“, das macht nichts, antwortet K. lächelnd und zieht mich hinter sich ins Haus.

Und schon sitze ich auf der gemütlichen Couch in der Wohnküche, dem Herzstück des Gebäudes, eine dampfende Tasse Tee in der einen, eine frische Orange in der anderen Hand. Was sich vor meinen Augen abspielt, sieht nach dem friedvollen Alltag einer ziemlich netten Großfamilie aus: man kocht, unterhält sich, im Fernsehen läuft ein Hockeyspiel. K. hat vorhin allerdings ein bisschen übertrieben mit der reibungslosen Kommunikation. Olga, die Leiterin des Hauses, und alle anderen Mitarbeiter, sprechen nämlich nur mittelmäßiges Englisch und erst recht kein Deutsch. Von den Konversationen verstehe ich daher nur herzlich wenig, und wenn jemand etwas von mir will, muss er das schon zwei-, dreimal sagen. Aber so viel Geduld haben hier zum Glück alle.

Am Freitagabend treffen sich die Mitarbeiter, um zu reden und dabei neuen Wein zu trinken, der so neu gar nicht mal ist. Ich habe, passend zum Anlass, original german Zwiebelkuchen mitgebracht. Merke: Willst du Tschechen für dich gewinnen, dann bring ihnen etwas zu Essen mit und sag, dass du Milan Kundera toll findest. Ich verstehe zwar nicht viel, verfolge aber trotzdem mit, wie Anwesenden immer fröhlicher, das Gelächter immer ausgelassener wird. Auf das übliche Lamentieren über zu lange Arbeitszeiten und Lästern über Vorgesetzte und Untergebene, das ich bei Praktika schon so oft zu hören bekommen habe, warte ich vergebens. Stattdessen tauscht man sich über die Klienten in liebevollem, mitunter gar bewunderndem Ton aus. Wie gut E. tanzen könne und was für ein bemerkenswertes Gedächtnis A. habe. „They are special people“, sagt Lenka, die dankenswerterweise immer mal wieder ein wenig für mich übersetzt. „I think we should learn from them also.“

Ein wahres Wort. Vor allem für mich. Denn egal, was ich in der nächsten Woche unternehme, ob ich die Klienten von der Werkstätte abhole oder mit ihnen essen gehe: Immer bin ich auf ihre Hilfe angewiesen. Die gefühlten 10 000 Bushaltestellen Brnos sind mir genauso fremd wie 2/3 der Begriffe, die auf der Einkaufsliste stehen. Natürlich fühlt sich das erst mal etwas seltsam an, wie verkehrte Welt eben. Aber man gewöhnt sich daran, und die „Klienten" tragen mit ihrer offensichtlich nicht an Bedingungen geknüpften Akzeptanz wesentlich dazu bei, dass ich mich schnell wohl fühle. D., ein etwas älterer Klient, packt sogar extra für mich seine Deutschkenntnisse aus. Mit hinterm Rücken verschränkten Händen und bedeutungsschwerer Miene führt er seine Erläuterungen aus, wobei er das „r“ von „aberrr“ genüsslich rollt. Dass es keinerlei Sinn macht, was er da erzählt, ist dabei absolut zweitrangig.

Insgesamt fühlt sich meine Tätigkeit bei der Caritas verdächtig wenig nach Arbeit an: Ein bisschen spazieren gehen, ein paar pflegerische Aufgaben, ein bisschen Hausarbeit, ein bisschen kochen, ganz viel Essen und ganz viel Straßenbahn fahren.

Freitag, 24. September 2010

Spaziergang durch Brno

Ein Termin fällt aus, und ich habe plötzlich völlig unverhofft drei Stunden Zeit in der Stadt. Welch unerhörte Freiheit! Brno, mein zukünftiges Zuhause, liegt vor mir wie eine Schatzkiste, in der ein Schlüssel steckt. Die Glücksgefühle strömen über, als ich durch die Häuserschluchten mit den ehrwürdigen, charmant morbiden Fassaden schlendere. An jeder Kreuzung schlage ich, ohne zu überlegen, einen Weg ein und trauere gleichzeitig zwei vergebenen Chancen nach. Aber, ach! ich habe Zeit, mich nach und nach dieses unbekannten Terrains zu bemächtigen...

Was gleich auffällt, ist, dass die meisten Tschechen Zebrastreifen für eine Art dekorative Straßenbemalung halten. Dass diese rätselhafte Zeichnung irgendeine Bedeutung für das Verkehrsgeschehen haben könnte, ist ihnen jedenfalls gänzlich unbekannt. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Tschechen Inlineskaten nicht für einen alten Hut mit demselben Verfallsdatum wie Tic Tac Toe oder Ghettoblaster halten, sondern für den letzten Schrei. So ist das Überqueren der Straße jedes Mal ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang.

Geschafft. Auf der anderen Straßenseite angelangt, erregt ein Ladenschild meine Aufmerksamkeit: „Cech a Nemec“, Tscheche und Deutscher, prangt da in goldenen Lettern. Was mag sich wohl dahinter verbergen? Ein deutsch-tschechisches Kulturinstitut? Eine Sprachschule? Ein internationales Restaurant? Ich trete näher und bin erstaunt: Es handelt sich um ein Geschäft, das Bilderrahmen verkauft. Interessant. Erachtet der Besitzer dieses Ladens Deutsche und Tschechen als Rahmen Europas? Oder fallen Tschechen und Deutsche aus dem Rahmen? In Gedanken über einen tieferen Sinn dieser Namensgebung versunken, finde ich mich vor einer Passage wieder. Darin: Menschen mit dunkler Haut und schwarzen Haaren. Roma! Schon halte ich meine Handtasche fest und suche nach einer Ausweichmöglichkeit, als mir die Lächerlichkeit meines Tuns bewusst wird. Bei den Menschen in der Passage handelt es sich um zwei Mädchen von höchstens zwölf Jahren. Eine vollführt Tanzbewegungen zu einer Musik, die nur sie hört. Es sieht verdächtig nach Hip-Hop aus. Wir lächeln uns zu.

Bald darauf entdecke ich rechts der Straße eine efeubewachsene Treppe, die einem unsichtbaren, oberhalb gelegenen Ziel führt. Ich überlege nicht zweimal und mache mich an den Aufstieg; allzu verlockend ist der Gedanke, von oben eine Aussicht auf die Stadt zu haben. Das Tückische ist, dass man von unten aus nicht sieht, wie weit der Gipfel noch entfernt ist. Die Jacke, die ich mitgenommen habe, erweist sich bald als völlig sinnloser Balast. Keuchend und schwitzend komme ich schließlich oben an. Welche Überraschung: Ich bin völlig zufällig auf der Brünner Burg, der Hrad Spilberk, gelandet! Der Ausblick von hier oben lässt sich nur schwer beschreiben, ohne in die gängigen Touristenklischees zu verfallen. Der aufmerksame Leser fragt sich jetzt vielleicht, warum ich an dieser Stelle keine Bildergalerie mit 120 Fotos und Bildunterschriften wie „Der herrliche Blick von der Brünner Burg“ oder „Ich bin der König der Welt!“ einfüge. Die Antwort ist sehr leicht. Innerer Dialog der Autorin vor dem Aufbruch in die Stadt: „Soll ich den Fotoapparat mitnehmen?“ – „Nein, den schleppst du doch nur mit dir rum.“ – „Aber was, wenn ich doch Gelegenheit zum Fotografieren habe? Wir haben herrliches Wetter, keine Wolke am Himmel. Das wären unvergleichliche Bilder!“ – „Du hast einen Termin bei der jüdischen Gemeinde und kein Fotoshooting! Jetzt leg das olle Ding auf den Flügel und fertig.“ Tja, und da liegt er jetzt. Ein Glück, dass meine sprachlichen Bilder eine solche Leuchtkraft besitzen, dass sie über den Mangel an unmittelbar visuellem Material spielend hinwegtrösten:

Von der Brünner Burg hat man einen sehr schönen Blick.

Nach ausreichendem Genuss desselben mache ich mich wieder an den Abstieg. Einmal mehr begegne ich der wohl größten Liebe der Tschechen: Ihren Hunden. Wenn man sie denn so nennen kann. Die felligen Bündel, die jeder zweite Tscheche hinter sich her zu ziehen scheint, kann man schon mal mit einer den Berg hinab rollenden Kastanie verwechseln. Zum verwechseln ähnlich ist auch das Geräusch, das ertönt, wenn man versehentlich auf ein solches Hündlein tritt. Nicht, dass ich aus Erfahrung spräche…

Mein leerer Magen zieht mich magnetisch zur Stadtmitte, vorbei an herrschaftlichen Theatern und Museen. Standhaft lasse ich den McDonalds neben mir liegen. So tief bin ich noch nicht gesunken! In einem fremden Land voller Möglichkeiten einem globalen Massenfraß zu frönen! Ich hole mir stattdessen an der nächsten Straßenecke ein Stück Pizza.

Schließlich lasse ich mich an der Straßenbahnhaltestelle nieder und warte auf meinen Zug. An der Haltestelle „Pisarky“ gibt es Treppen, Geländer, ein überdachtes Wartehäuschen. Urbaner Raum! Denken zumindest die acht Parcours-Sportler, die dieses Gelände nutzen, um atemberaubende Sprünge, Saltos, Drehungen und sonstige Kunststücke zu üben. Ich bin in der Großstadt!, sage ich zu mir selbst. In meiner neuen Stadt, der Metropole Brno! Das zufriedene Grinsen auf meinem Gesicht will einfach nicht verschwinden.

Mittwoch, 22. September 2010

Willkommen zu Hause!

Beinahe hätte ich den Start in mein neues Leben verschlafen. Hätte meine Mitbewohnerin und –freiwillige Teresa mich nicht geweckt, wäre ich wohl erst in Budapest wieder zu mir gekommen. (Könnte mit dem allzu genauen Kennenlernen der tschechischen Kultur zusammenhängen.) So aber stehe ich völlig unvorbereitet auf dem Bahnsteig, Motorenlärm, Menschenmassen, Leuchtreklamen, Farben, Gerüche, Geräusche Brnos dringen auf mich ein; und schon hat uns unser lächelndes Empfangskommando erspäht, nimmt uns unsere Koffer ab und redet in einem wüsten Kauderwelsch aus Tschechisch, Englisch, Deutsch und internationaler Gebärdensprache drauflos; dann stößt auch noch Talita, die Dritte im Bunde der Brno-Freiwilligen, dazu; und ab geht’s übers Kopfsteinpflaster. Sack und Pack verfrachten wir ins Auto, uns selber in ein Café; doch auch hier bleibt kaum Zeit zum Zu-sich-kommen; nach einer hastig ausgetrunkenen Kofola geht’s schon weiter durch enge Gassen und überfüllte Einkaufsstraßen; rein in den Handyladen, neue Telefonnummer aussuchen, SIM-Karte kaufen, wieder raus; zurück zum Bahnhof, Passbilder machen; zurück auf die Einkaufsstraße, rein in den Ticketschalter, Passbild abgeben, Monatskarte dafür bekommen; zurück zum Auto, Fahrt zur Wohnung, Koffer schleppen, Schlüsselübergabe, Tür zu. Ruhe.

Moment! Das soll meine erste Begegnung mit meinem neuen Zuhause sein? So hab ich mir das aber nicht vorgestellt! Hat überhaupt mal irgendwer gefragt, ob ich denn schon bereit dafür bin? Ich meine, klar beschäftige ich mich seit Monaten mit nichts anderem. Ich habe mich mit meinem Sprachkurs rumgeschlagen, ein Praktikum absolviert, mir einen Reisepass ausstellen lassen, Unmengen an Unterwäsche besorgt, gelernt, wie man eine Waschmaschine bedient und Pfannkuchen macht, Skype installiert, mit meinen Freunden Abschied gefeiert- Aber das heißt doch noch lange nicht, dass ich innerlich auf diesen Moment vorbereitet bin! Ich habe ihn mir so oft vorgestellt. Immer gleich. Und immer anders als genau jetzt. – Im Vergleich mit den unzähligen Traumbildern kann die Realität nur verlieren.

Habe ich mir das wirklich genau überlegt, so ein Jahr, so ganz allein, in einer kalten, grauen Wohnung mit harten Betten, weit weg von Zuhause? Ich kann mich auf einmal nicht mehr richtig erinnern.

Es hilft nichts, jetzt muss ich da durch, und da schon mal da bin, kann ich mir ja auch mal die Wohnung ansehen: Es gibt eine Küche, ein WC, ein Bad und drei Zimmer. Jedes ist bis zum Rand vollgestopft mit all den Dingen, die es dem Vermieter und mehreren Freiwilligengenerationen nicht wert waren, mitgenommen zu werden: vertrockneten Zimmerpflanzen, leeren Whiskeyflaschen, Windlichtern, Schallplatten, scheußlichen Glasvitrinen, billigen Aquarellen, Koffern, Körben und –tata!- zwei riesigen verstimmten Flügeln. Kurzum: die Wohnung ist total zugemüllt. Allerdings ist sie schön warm. Und grau ist sie auch nicht gerade. Die Wände tragen vielmehr einen undefinierbaren Gelbton. Und allein bin ich ja nun wirklich nicht. Meine beiden Mitbewohnerinnen sind nett. Ziemlich sogar. Und der Empfang am Bahnhof war doch eigentlich auch ganz schön herzlich. Und soooo weit ist es jetzt auch wieder nicht von Zuhause nach Brünn.
100_3282
100_3285
100_3286

Und war das Sich-einsam-und-verlassen-fühlen nicht von Anfang an Teil des Plans? Ich krame die Reisebeschreibung heraus. „Das ultimative Wagnis: Ein Jahr im Ausland“, steht da. „Enthält: Orientierungslosigkeit, Kommunikationsprobleme, Heimweh, Kulturschock, Einsamkeit, Reifeprüfung, Erwachsen-werden, Langeweile, Unabhängigkeit, sinnvolle Tätigkeiten, neue Freunde, unvergessliche Erfahrungen. Nicht geeignet für Kinder über 18 Jahren.“ Genauso hatte ich es gebucht.
Höchste Zeit, jetzt noch das mit den Betten zu testen.

Montag, 20. September 2010

Prag - Ale Ahoj!

Über zwei Dinge waren sich alle acht Tschechienfreiwillige sehr schnell einig. Erstens: Niemand von uns wollte eigentlich an erster Stelle nach Tschechien. Zweitens: Es ist dennoch das mit Abstand beste Land von allen. Wo kann das Leben lebenswerter sein als in dem Land, das der Welt Karel Gott, Dolly Buster und den škoda gegeben hat?
100_3242
Unsere Länderbeauftragte tragen mit ihrem herzlichen Empfang einen wesentlichen Teil dazu bei, uns in der oben genannten Ansicht zu bestätigen. Klaudia, die lebhafte Macherin von der Ostseeküste, hat für all unsere Fragen und Sorgen ein offenes Ohr und verbreitet 24 Stunden am Tag gute Laune. Und Stana, die wahrscheinlich coolste Novizin der Welt, lässt uns von ihrem umfangreichen Insiderwissen profitieren – egal, ob es um böhmische Geschichte oder Prager Nightclubs geht.

In Prag angekommen, steht erst mal ein Sprachkurs auf dem Stundenplan. Die Angst mancher Freiwilliger vor diesem Part erweist sich als unbegründet: Manchmal ist Spracherwerb auch sehr einfach. Die wichtigsten Trinksprüche hat man zum Beispiel sehr schnell drauf: Man sagt „na svobotu“ (auf die Freiheit), „na zdraví“ (auf die Gesundheit) oder „nadrazí“ (Bahnhof). Ein weiteres Muss für jeden Tschechienfreiwilligen: Ein gewisses Repertoire an Flüchen und Beschimpfungen. „Ty vole!“ (du Hornochse) wird hier gerne verwendet oder „do prdele“ (in den Arsch). Ernüchternd ist die Erkenntnis, dass sich nicht alle deutschen Sprachgewohnheiten 1:1 ins Tschechische übertragen lassen. Neuschöpfungen wie „Ale ahoj!“ (Aber Hallo!) oder „To je nemocný!“ (Das ist krank!) dienen sehr zu Erheiterung Stanas.

Natürlich steht auch Sightseeing auf dem Programm. Welch erhabenes Gefühl, bei strahlendem Septemberwetter durch die goldene Stadt zu wandeln und mit milder Herablassung die wuselnden Touristenherden zu beobachten. Was wissen die schon! Nächste Woche sind sie wieder zu Hause, dann existiert die Tschechische Republik für sie nur noch in Form eines Karluv most-Bildschirmhintergrundes. Wir sind Eingeweihte! Wir können sogar schon ein Bier auf Tschechisch bestellen! Mit einem überlegenen Lächeln und einem fröhlichen Lied (Im Zweifelsfalle: Die Biene Maja) auf den Lippen ist der Stadtrundgang gleich nochmal so schön.
P1080756
Ein weiteres Ziel der Orientierungstage besteht darin, sich intensiv mit der jeweiligen Landeskultur auseinanderzusetzten. Das Schlüsselwort lautet „teilnehmende Beobachtung“. Wer nun etwa denkt, dass in Tschechien hierbei Budweiser, Becherovka und Oplatky eine übergeordnete Rolle spielen – der liegt genau richtig. Und weil es so viel Spaß macht, Klischees zu bedienen, singen wir auf einem Empfang für die Vertreter unserer Projekte ein Lied voller tschechischer Lehnwörter: „Nach der štrapac geht’s in die kejpa,/ am štammtis trinken wir dann weiter,/ der Abschied von der kundšaft fällt schwer,/ die šnipticherl sind auch bald leer." Bezeichnend für diese Veranstaltung: Stana (Tschechin!) übersetzt den tschechisch sprechenden deutschen Vorsitzenden einer Partnerorganisation von ASF ins Deutsche. Die deutsch-tschechische Freundschaft ist weit fortgeschritten an diesem Abend.
P1080888
Auch sonst schlägt uns viel Sympathie entgegen. Eine ältere Dame kann es kaum fassen, dass sich deutsche Jugendliche in Tschechien für soziale Projekte engagieren. Als wir ihr den historischen Hintergrund für unsere Arbeit erklären, kann sie ihre Rührung kaum verbergen. Wir erfahren, dass ihr Vater in Theresienstadt war. Sie verschwindet unauffällig – um kurze Zeit später mit einem riesigen Karton voller süßer Teilchen wieder aufzutauchen.
P1080559
Diese Dankbarkeit müssen wir uns eigentlich erst noch verdienen - und darum geht es jetzt endlich richtig richtig los - mit der Arbeit in den Projekten!

Samstag, 18. September 2010

Leaving Hirschluch on a Schnellzug

Vorbereitungsseminar in Hirschluch – das sind harte Betten, wässriger Schullandheimtee und eine chronische Müdigkeit, Mücken, kindische Aufwärmspiele und dauerbesetzte Duschkabinen. Das sind aber vor allem immer neue Antworten auf dieselben Fragen. Allein auf die Frage „Woher kommst du? Wohin gehst du? Was hast du für ein Projekt?“ erhält man im Laufe der Woche 130 unterschiedliche; genauso viele Jugendliche werden hier auf ihren Freiwilligendienst im Ausland vorbereitet. Aber auch andere Probleme werden hier kontrovers besprochen: Wird die Schuld für begangene Verbrechen auf nachkommende Generationen vererbt? Sollte man Menschen mit Behinderung eher viel Begleitung gewährleisten oder ihnen eine größtmögliche Eigenständigkeit ermöglichen? Gibt es so etwas wie ein biologisches Geschlecht, oder ist das sozio-kulturelle Umfeld für Charakter und sexuelle Orientierung ausschlaggebend? „Können wir darüber diskutiere?“ ist der Satz, der am häufigsten fällt. Was folgt, ist ein wilder Ritt durch die unwegsamsten Gefilde der Argumentation, da werden Reden geschwungen und Zweifel bekundet, das gesamte Schul-und Fernsehwissen ausgepackt, ausgebreitet, innerhalb weniger Minuten ein ganzes Weltbild aufgestellt und analysiert, und das alles in alle vier Himmelsrichtungen und ohne Rücksicht auf die Geduld der Zuhörer. Wen interessiert schon zielgerichtete Konversation? Die Vielzahl an unterschiedlichen Anschauungen zählt, die Schönheit des Diskurses. Danach wird ein Lied gesungen (am liebsten ein Kanon, den kriegt wirklich jeder hin, und in wenigen Sekunden wabert das schönste polyphone Klanggebilde durch den stickigen Seminarraum). Denn im Grunde sind sich doch alle einig: Wirklich wichtig ist, dass alle Meinungen gleich viel wert sind. Alle Lebensentwürfe müssen toleriert und bei Bedarf gefördert werden. Das ist es, was uns die jüngere Geschichte lehrt. Steht alles im Gründungsaufruf! Man muss es nur nachlesen.
***
"Ich mache Ihnen keine Vorwürfe. Sie sind die junge Generation, Sie haben nichts verbrochen, aber Sie können dafür sorgen, dass so etwas nie wieder geschieht“, sagt die Holocaustüberlebende Margot Friedländer.* Über ihre Erfahrungen im Berliner Untergrund und im Konzentrationslager Teresienstadt hat sie ein Buch geschrieben, aus dem sie jetzt vorliest. Seit kurzer Zeit lebt sie wieder in Deutschland, in einem Seniorenwohnheim. Empfindet sie keine Bitterkeit, wenn sie in die Augen ihrer Mitbewohner, die ja damals zu den Tätern hätten gehören können, blickt? „Nein. Es ist unheimlich belastend, die Vergangenheit immer mit sich herumzutragen. Finden Sie es nicht viel besser, sich stattdessen um die Zukunft zu kümmern?“ Ist es ihr also gleichgültig, wenn sie aus ihren Memoiren liest? „Nein. Es ist mein Leben. Und es berührt mich. Jedes Mal.“ Besser könnte kein Öffentlichkeitsbüro die Notwendigkeit der Arbeit von ASF erklären.
***
Auf dem Länderabend für die Tschechienfreiwilligen gibt es heiße Schokolade und Karlsbader Oblaten, aus den Boxen kommt lustige tschechische Musik. „Rychlik jede do Prahy“, der Schnellzug fährt nach Prag, heißt ein Lied. Ein Titel, der Sehnsucht weckt. „Nicht weg, nicht hier“, so könnte man den seltsamen Zustand in dem Dorf nahe Berlin nennen. Alle sind voller Tatendrang, den Koffer bis zum Rand gepackt mit Plänen, Erwartungen und einer ordentlichen Portion Idealismus. Aber sie sollen nicht gehen ohne einen umfangreichen Input in Sachen Geschichiche, Gesellschaft und Politik. Im Haus der Wannseekonferenz, im Jüdischen Museum in Berlin oder bei einer Führung durch Neukölln, immer unter der Leitung des kompetenten und hochmotivierten Teams, wird einem vieles klar und viele Zusammenhänge bewusst. Das alles macht sehr viel Spaß und ist ergiebiger als viele Wochen Schulunterricht. Aber irgendwann ist dann auch mal Schluss mit Theorie.
***
Der letzte Tag. Die Freiwilligen sollen einen Brief an sich selbst schreiben Der wird dann aufbewahrt und ihnen in einem Jahr, nach ihrem Freiwilligendienst, wiedergegeben. Was schreibt man seinem zukünftigen Ich? Woher soll man wissen, worüber man sich bei der Heimkehr Gedanken machen wird, wenn man noch nicht mal unterwegs ist? Wie kann man vorausahnen, unter welchen Vorzeichen man das Resümee eines ganzen Jahres ziehen wird? Manche Fragen bleiben auch noch ohne Antwort. Zum Glück. "Leaving Hirschluch on a Jetplane" singen die Teamer zum Abschied. Ein Schnellzug tuts auch.

*Äußerungen sinngemäß wiedergegeben

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

Wie treffend, wie treffend...
Bin heute nach Darmstadt in meine neue WG gezogen,...
Teresa Nowak - 3. Okt, 20:39
Die Woche der LETZTEN...
Sonntag: Zum letzten Mal mit allen Tschechien-ASF-Freiwillige n...
Eva W. - 3. Okt, 00:09
Hody - Kerwevergnügen...
Ich treffe recht spät ein, die Party ist schon in vollem...
Eva W. - 2. Okt, 19:54
Urlaub in Rumänien -...
Rumänien und die Taxifahrer. Es ist ja nicht so, als...
Eva W. - 2. Okt, 19:32
Liebes Reisetagebuch,
Donnerstag heute sind wir zu unserer kleinen Polenreise...
Eva W. - 12. Jul, 13:24

Meine Kommentare

Lieber Herr Prof. Ehrle,...
Lieber Herr Prof. Ehrle, vielen Dank für ihr fortgesetztes...
evamariawalther2 - 18. Sep, 13:51
https://www.asf-ev.de/de/e inblicke/lebenszeichen-vom -freiwilligendienst/eva-ma ria-walther.html
https://www.asf-ev.de/de/e inblicke/lebenszeichen-vom -freiwilligendienst/eva-ma ria-walther.html
EvaMariaWalther - 10. Jun, 18:30
Nachtrag: Ganze 1 1/2...
Nachtrag: Ganze 1 1/2 Wochen hat meine Fahrsperre gedauert....
EvaMariaWalther - 10. Mär, 23:26
https://www.asf-ev.de/de/e inblicke/lebenszeichen/eva -maria-walther.html
https://www.asf-ev.de/de/e inblicke/lebenszeichen/eva -maria-walther.html
EvaMariaWalther - 10. Mär, 23:21
Dieser Artikel sowie...
Dieser Artikel sowie alle darin handelnden Personen...
EvaMariaWalther - 2. Sep, 22:29

Suche

 

Status

Online seit 5024 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 21. Mai, 18:54

Credits


Arbeit
ASF
Brno
Freizeit
Vorbereitung
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren