Brno

Sonntag, 2. Oktober 2011

Hody - Kerwevergnügen in Žebětin

Ich treffe recht spät ein, die Party ist schon in vollem Gange. Jana begrüßt mich überschwänglich und mit Umarmung, das ist sonst gar nicht so ihre Art. Aber heute ist Jana sichtlich gelöst, geradezu aufgedreht, genau wie alle anderen Besucher des gut gefüllten Jugendzentrums auch. Schließlich ist heute kein gewöhnlicher Tag. Heute sind die Hody in Žebětin, einem Stadtteil am Rande von Brno. Hody nennt man in Mähren die Kirchweih oder Kirmes, und die wird in diesen Breiten so laut und bunt gefeiert wie sonst nirgendwo. Und die Hody in Žebětin sind natürlich die besten. Das behaupten alle, die dieses gesellschaftliche Highlight schon mindestens einmal miterleben durften. Bereits Monate zuvor wurde ich eingeladen, und nach stundenlanden Vorschwärmen stand für mich auch bald fest, dass ich mir dieses Event auf keinen Fall entgehen lassen konnte.

Wir müssen nicht lange warten, da kommt auch schon David. Der sieht leider schon nicht mehr allzu frisch aus, was damit zusammenhängen könnte, dass die Feierlichkeiten schon gestern abend begonnen haben... Dabei hat David eine sehr wichtige Aufgabe; er spielt heute abend sozusagen den Mundschenk. Mit einer Fünf-Liter-Pulle billigen Weißweins und einem einzigen Glas läuft der durch den Raum. Wer etwas trinken möchte, dem macht er das Glas voll, und nicht selten schließt er sich aus Solidarität gleich an. Die Gläser sind recht klein, doch Achtung: Sie summieren sich im Laufe des Abends doch schneller, als man denkt! Zumal eine ganze Horde solcher Sommeliere im signifikanten weißen Leinenanzug herumrennen.

Da beginnt schon die erste Tanzdarbietung. An die dreißig Tanzpaare, die „stárky“, betreten das Tanzparkett in der Turnhalle, und mir fällt direkt mal die Kinnlade herunter: Alle stecken in einer traditionellen Tracht, die Mädels mit XXL-Puffärmeln und XXL-Reifröcken, die Jungs mit witzigen bunten Hüten auf dem Kopf.

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Die sind alle geliehen, erklärt Jana, leisten könne sich die aufwendig bestickten Gewänder niemand. Dann stimmt die Kapelle einen zünftigen Marsch an, die stárky stellen sich in kleinen Gruppen auf und beginnen zu tanzen, und zwar genauso, wie auf den Hody in Mähren schon seit vielen, vielen Jahren getanzt wird. Da wird im Kreis herum gewirbelt und immer wieder auf raffinierte Art und Weise der Tanzpartner gewechselt. Hier hat jeder Tanz, ja fast jeder Schritt seine Geschichte und Bedeutung. Was mich aber völlig überwältigt, ist die Tatsache, dass keiner der Protagonisten, weder unter den Tänzern, noch in der Blaskapelle, älter ist als 30 Jahre.

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In Deutschland sucht man eine solche Selbstverständlichkeit und Begeisterung bei Traditionspflege außerhalb Bayerns wohl vergeblich. Nach jedem Tanz stoßen alle Mädchen hohe, trillernde Töne aus, die sogenannten Juchzer. Am Ende der Tanzrunde folgt eine Art Sprechgesang: Einer ruft eine Frage in den Raum, die anderen antworten im Chor. Zum Glück sitzt die kompetente Eingeweihte Jana direkt neben mir und entschlüsselt das für mich rätselhafte Verhalten. Die Fragen sind jedes Jahr gleich und die Antworten einstudiert. Sie lauten „Wessen Hody sind das? – Unsere! Wessen stárky? – Unsere! Wie sind Schulden? – Sorgenvoll!“ Es folgt die Frage nach der Höhe des Baumes, der als Schmuck auf dem Marktplatz wie bei uns ein Maibaum aufgestellt wurde (25 Meter!) und nach den Namen des Hody-Prinzenpaares (Martin! Und Hana!), dann wird noch mal gejuchzt und die Tanzfläche für alle freigegeben.

Wer will kann jetzt Polka und dergleichen tanzen. Manchmal stellen sich auch alle im Kreis auf und singen Lieder, die irgendwie jeder kennt. Ein junger Mann sticht aus der Menge hervor: Er ist mindestens zwei Meter groß, hat Muskeln wie ein Actionheld und auch ungefähr das gleiche Mienenspiel. Ich frage Jana, ob sie ihn kennt. „Ja, natürlich... Der ist ein bisschen... seltsam. Er hat ein Hakenkreuz auf die Brust tätowiert!“

Da erzählt mir Jana leider nichts Neues. Rückblende: Gleicher Ort, drei Wochen zuvor. David hat uns zur allsamstäglichen Party im Jugendzentrum eingeladen, gerade haben noch die stárky für den großen Auftritt geprobt. Bald fließt das Bier in für Tschechien üblichen Mengen, die Leute spielen in der Turnhalle mit den großen Matten und dem Trampolin und tanzen drum herum.

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Der Hüne immer vorne mit dabei. Als ich das halb verdeckte Tatoo sehe, will ich meinen Augen kaum trauen, glaube an einen Irrtum. Ich frage nach. Das war ein Fehler. Bald schon muss ich mir eine Lobeshymne auf das deutsche Volk anhören, dass allen anderen, vor allem natürlich dem tschechischen, weit überlegen sei. Er selbst habe deutsche Wurzeln. Deutsch sprechen könne er freilich nicht. Er bemerkt mein Entsetzen und betont gleich, rassistisch sei er auch nicht, zumindest nicht Schwarzen oder Asiaten gegenüber. Mit den Zigeunern sei das natürlich etwas anderes. Was folgt ist die oft gehörte Leier von den faulen, dreckigen, kriminellen Roma. Mir fehlen zwar nicht die Argumente, wohl aber die Worte, zumal auf Tschechisch. In meiner Verzweiflung und aufkeimenden Wut im Bauch versuche ich es stattdessen mit einem bitterbösen skeptischen Blick. Zu meiner großen Überraschung funktioniert das; Mr Hakenkreuz will sich unbedingt erklären und redet sich dabei an die Wand. Er sei eigentlich schon gar nicht mehr so krass drauf wie früher. Als er sich das Tatoo stechen ließ, sei er noch jung und dumm gewesen. Und überhaupt sei das Hakenkreuz für ihn vor allem ein Symbol für den Kreislauf des Lebens. Aber mein Vorschlag, sich doch mal genauer mit Roma zu beschäftigen, vielleicht sogar mal mit einem zu reden, die seien nicht so schlimm, wie er denke, geht ihm dann doch zu weit. Mit einem Kopfschütteln wendet er sich ab. Ich atme erleichtert auf, aber der Abend ist mir verdorben.

Zurück auf den Hody. Auf dem Weg von der Toilette steht mir der Bodybuilder plötzlich im Weg. Wir stehen allein auf dem Flur, der Zugang zum Saal ist mir versperrt. Er lächelt nicht, schaut mich mit einem durchbohrenden Blick an. Dann nimmt er seine Weinflasche, schenkt ein Glas ein und streckt es mir hin. Ich zögere. Die Gedanken, die mir in genau diesem Moment duch den Kopf gehen, kommen mir im Nachhinein selbst ziemlich albern vor. Letztendlich habe ich das Glas ausgetrunken und auch gut vertragen. Diese Begegnung zu verarbeiten dauert ein wenig länger. Wollte er mich einschüchtern? Oder war es eine Versöhnungsgeste? Fest steht nur: Man sollte wirklich niemandem mit Vorurteilen begegnen, noch nicht einmal angeblichen Neonazis. Zumindest an einem so besonderen Tag wie heute.

Sonntag, 14. November 2010

Exkusiver Vorabdruck: Artikel für die RNZ

„Und was machst du nach der Schule?“
Wie wohl jedem Abiturienten wurde auch mir diese Frage im letzten Jahr häufig gestellt. Lange habe ich mich vor den Reaktionen auf meine Antwort gefürchtet: Sie reichten von ungläubigen Gesichtern über geheucheltes Interesse bis zu Unverständnis oder Mitleid. Ich werde bis August nächsten Jahres in Tschechien leben und in sozialen Projekten arbeiten.

Die Republik Tschechien ist im Bewusstsein vieler Deutscher langweilig und wenig attraktiv. Und das, obwohl manch einer nicht viel mehr als Karel Gott, die wichtigsten Biersorten und eine unmögliche Sprache mit diesem Land in Verbindung bringen kann. Warum ist das Interesse der Deutschen an unserem Nachbarn so gering?

Um Antworten auf diese Fragen zu finden, musste ich zunächst einmal an meinem eigenen Bild von diesem Land arbeiten. Denn, offen gestanden: Auch ich hatte mir Tschechien nicht unbedingt als Ziel meines Freiwilligendienstes auserkoren. Auf der Suche nach einer geeigneten Art und Weise, ein Jahr lang im Ausland zu arbeiten, stieß ich auf die Organisation „Aktion Sühnezeichen Friedensdienste“. Diese Organisation wurde kurz nach dem zweiten Weltkrieg gegründet. Bis heute schickt sie junge Menschen ein Jahr lang in Länder, die besonders stark unter den Nationalsozialisten gelitten haben, um dort für eine friedlichere Zukunft einzutreten. Fürsorge für die Opfer des Nationalsozialismus gehört dort ebenso zu ihren Aufgaben wie der Kampf gegen jede Art von Diskriminierung. Diese Verbindung von praktischer sozialer Arbeit und politischem Anspruch gefiel mir, und ich bewarb mich. Als mir nach einem Auswahlseminar und vielen Wochen des bangen Wartens dann mein Projektland und mein zukünftiger Einsatzort mitgeteilt wurde, wurde mir bewusst, wie wenig ich selbst über dieses Land wusste: Was für eine Währung haben die denn da? Was für einen Regierungschef? Welche Hauptreligion?

Inzwischen bin ich seit fünf Wochen in Tschechien und wenigstens etwas schlauer: Man zahlt in tschechischen Kronen, der aktuelle Ministerpräsident heißt Petr Nečas und ein Großteil der Bevölkerung gehört keiner Religion an. Außerdem wird mir langsam bewusst, dass ich meine Vorstellungen eines sinnvollen Freiwilligendienstes gerade hier in beispielhafter Weise verwirklichen kann.

Ich bin in drei Projekten tätig, die zusammengenommen die ganze Bandbreite der ASF-Projektarbeit abdecken: Bei den Besuchen, die ich den älteren Mitgliedern der jüdischen Gemeinde hier in Brno abstatte, werde ich immer wieder direkt mit der Vergangenheit konfrontiert. Viele meiner Klienten sprechen Deutsch, und die wenigsten verbinden schöne Erinnerungen damit. So erwähnte eine Dame eher beiläufig in einem Nebensatz, dass sie als Kind zwei Jahre lang im Konzentrationslager Theresienstadt interniert war. Es wurde deutlich, dass sie auf dieses Thema nicht näher eingehen wollte. Scheinbar fehlen ihr noch immer die Worte für das Erlittene. Bei wieder anderen Hausbesuchen habe ich das Gefühl, dass gerade das Reden über die Vergangenheit für die Betroffenen von großer Bedeutung ist. Ich spüre, dass es gut ist zuzuhören und auf diese Weise Leid zu teilen und das Gefühl der Einsamkeit zu verringern.

Bei einem Projekt für Romakinder begegne ich einer Minderheit, der gerade in Tschechien offener Rassismus entgegenschlägt. Der Zugang zu Bildung und Arbeit wird dieser Minderheit systematisch erschwert. Nur wenige Roma schließen eine Schulausbildung ab, die Wohnsituation ist katastrophal, die Arbeitslosigkeit liegt bei bis zu 90%. Das Projekt in Brno, in dem die Kinder ihre Freizeit verbringen und unter Anleitung lernen können, hat Modellcharakter. Schade, dass diesem Beispiel bisher kaum einer folgt.

Dasselbe gilt für das Wohnheim für Menschen mit Behinderung, in dem ich zwei Tage pro Woche verbringe. Acht Menschen leben hier in familiärer Atmosphäre bei ständiger Betreuung durch zwei Assistenten zusammen. Doch diese Art von sozialer Institution ist in Tschechien noch ein Einzelfall. Weitaus üblicher sind die riesigen anonymen Gebäudekomplexe aus der Zeit des Kommunismus, in denen Menschen mit Behinderung untergebracht sind.

Inzwischen sattelfest in Sachen deutsch-tschechischer Geschichte, kamen mir immer mehr Bedenken, wie mein Einsatz von Seiten der Tschechen wahrgenommen werden mag. Immerhin war die deutsch-tschechische Geschichte oftmals eine der gegenseitigen Verletzungen. Ich werde jedoch immer wieder überrascht: Einer älteren Dame kamen die Tränen, als ich ihr von meiner Arbeit erzählte und von Verantwortung für eine friedlichere Zukunft sprach. Wie sich später herausstellte, war ihr Vater im Konzentrationslager ums Leben gekommen.

Ich erlebe auch, dass gerade die junge Generation der Tschechen Deutschland gegenüber sehr aufgeschlossen ist. Schließlich ist Deutschland der wichtigste Handelspartner und deutsche Sprachkenntnisse wirken sich positiv auf die berufliche Karriere aus.

Ja, die tschechische Sprache ist schwer zu erlernen und ja, es gibt schönere Anblicke als den der Plattenbausiedlung, in der ich wohne. Aber es gibt noch viel zu tun, und kleine Erfolge und Dankbarkeit in meinem Arbeitsumfeld erfreuen mich jeden Tag aufs Neue. Außerdem hat das bescheidene Tschechien viel mehr zu bieten, als man vermuten würde: Naturschönheiten und Baudenkmale, Gastfreundschaft und ein brodelndes kulturelles Leben, kulinarische Höhenflüge – und ja, auch das Bier ist hier besonders gut. Insgesamt kann ich sagen, dass ich jetzt an keinem anderen Ort lieber wäre.

Die Aktion Sühnezeichen Friedensdienste ist ein gemeinnütziger Verein und auf Spenden angewiesen. Gerade für die osteuropäischen Länder ist es schwierig, Förderer zu finden. Nähere Informationen finden sie unter www.asf-ev.de

Nur so zur Info: Deutsch-tschechische Geschichte im Schnelldurchgang

Seit über 800 Jahren lebten Deutsche in den Teilen Böhmens und Mährens, die auch als Sudetenland bezeichnet werden. Während seiner Zugehörigkeit zum Kaiserreich Österreich-Ungarn war die deutsche Kultur dominierend. Als nach dem zweiten Weltkrieg die unabhängige Tschechoslowakei gegründet wurde, fühlten sich die Deutschen benachteiligt. Es entstand unter anderem die Sudetendeutsche Partei, die Hitler nahestand und 1938 bei Kommunalwahlen 90% der sudetendeutschen Stimmen erhielt. Wenig später wurde in Abwesenheit der tschechoslowakischen Regierung im Münchner Abkommen beschlossen, die von Sudetendeutschen bewohnten Gebiete ins Deutsche Reich einzugliedern. Infolge dessen wurde auch der Rest der Tschechoslowakischen Republik als „Reichsprotektorat Böhmen-Mähren“ Deutschland einverleibt. Die Besatzungsmächte begingen dabei immer wieder grausame Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung. Nach der Niederlage Deutschlands kam es überall im Land zu gewaltsamen Ausschreitungen gegenüber Deutschen, der sog. „wilden“ Vertreibung. Noch im gleichen Jahr wurde die Enteignung und Ausweisung aller Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit in den Beneš-Dekreten festgelegt. 2002 kritisierte Vaclav Havel die „wilden“ Vertreibungen und erntete dafür heftige Kritik. Bis heute sorgt die Forderung des Vertriebenenverbandes nach Aufhebung der Beneš-Dekrete für kontroverse Diskussionen.

Freitag, 24. September 2010

Spaziergang durch Brno

Ein Termin fällt aus, und ich habe plötzlich völlig unverhofft drei Stunden Zeit in der Stadt. Welch unerhörte Freiheit! Brno, mein zukünftiges Zuhause, liegt vor mir wie eine Schatzkiste, in der ein Schlüssel steckt. Die Glücksgefühle strömen über, als ich durch die Häuserschluchten mit den ehrwürdigen, charmant morbiden Fassaden schlendere. An jeder Kreuzung schlage ich, ohne zu überlegen, einen Weg ein und trauere gleichzeitig zwei vergebenen Chancen nach. Aber, ach! ich habe Zeit, mich nach und nach dieses unbekannten Terrains zu bemächtigen...

Was gleich auffällt, ist, dass die meisten Tschechen Zebrastreifen für eine Art dekorative Straßenbemalung halten. Dass diese rätselhafte Zeichnung irgendeine Bedeutung für das Verkehrsgeschehen haben könnte, ist ihnen jedenfalls gänzlich unbekannt. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Tschechen Inlineskaten nicht für einen alten Hut mit demselben Verfallsdatum wie Tic Tac Toe oder Ghettoblaster halten, sondern für den letzten Schrei. So ist das Überqueren der Straße jedes Mal ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang.

Geschafft. Auf der anderen Straßenseite angelangt, erregt ein Ladenschild meine Aufmerksamkeit: „Cech a Nemec“, Tscheche und Deutscher, prangt da in goldenen Lettern. Was mag sich wohl dahinter verbergen? Ein deutsch-tschechisches Kulturinstitut? Eine Sprachschule? Ein internationales Restaurant? Ich trete näher und bin erstaunt: Es handelt sich um ein Geschäft, das Bilderrahmen verkauft. Interessant. Erachtet der Besitzer dieses Ladens Deutsche und Tschechen als Rahmen Europas? Oder fallen Tschechen und Deutsche aus dem Rahmen? In Gedanken über einen tieferen Sinn dieser Namensgebung versunken, finde ich mich vor einer Passage wieder. Darin: Menschen mit dunkler Haut und schwarzen Haaren. Roma! Schon halte ich meine Handtasche fest und suche nach einer Ausweichmöglichkeit, als mir die Lächerlichkeit meines Tuns bewusst wird. Bei den Menschen in der Passage handelt es sich um zwei Mädchen von höchstens zwölf Jahren. Eine vollführt Tanzbewegungen zu einer Musik, die nur sie hört. Es sieht verdächtig nach Hip-Hop aus. Wir lächeln uns zu.

Bald darauf entdecke ich rechts der Straße eine efeubewachsene Treppe, die einem unsichtbaren, oberhalb gelegenen Ziel führt. Ich überlege nicht zweimal und mache mich an den Aufstieg; allzu verlockend ist der Gedanke, von oben eine Aussicht auf die Stadt zu haben. Das Tückische ist, dass man von unten aus nicht sieht, wie weit der Gipfel noch entfernt ist. Die Jacke, die ich mitgenommen habe, erweist sich bald als völlig sinnloser Balast. Keuchend und schwitzend komme ich schließlich oben an. Welche Überraschung: Ich bin völlig zufällig auf der Brünner Burg, der Hrad Spilberk, gelandet! Der Ausblick von hier oben lässt sich nur schwer beschreiben, ohne in die gängigen Touristenklischees zu verfallen. Der aufmerksame Leser fragt sich jetzt vielleicht, warum ich an dieser Stelle keine Bildergalerie mit 120 Fotos und Bildunterschriften wie „Der herrliche Blick von der Brünner Burg“ oder „Ich bin der König der Welt!“ einfüge. Die Antwort ist sehr leicht. Innerer Dialog der Autorin vor dem Aufbruch in die Stadt: „Soll ich den Fotoapparat mitnehmen?“ – „Nein, den schleppst du doch nur mit dir rum.“ – „Aber was, wenn ich doch Gelegenheit zum Fotografieren habe? Wir haben herrliches Wetter, keine Wolke am Himmel. Das wären unvergleichliche Bilder!“ – „Du hast einen Termin bei der jüdischen Gemeinde und kein Fotoshooting! Jetzt leg das olle Ding auf den Flügel und fertig.“ Tja, und da liegt er jetzt. Ein Glück, dass meine sprachlichen Bilder eine solche Leuchtkraft besitzen, dass sie über den Mangel an unmittelbar visuellem Material spielend hinwegtrösten:

Von der Brünner Burg hat man einen sehr schönen Blick.

Nach ausreichendem Genuss desselben mache ich mich wieder an den Abstieg. Einmal mehr begegne ich der wohl größten Liebe der Tschechen: Ihren Hunden. Wenn man sie denn so nennen kann. Die felligen Bündel, die jeder zweite Tscheche hinter sich her zu ziehen scheint, kann man schon mal mit einer den Berg hinab rollenden Kastanie verwechseln. Zum verwechseln ähnlich ist auch das Geräusch, das ertönt, wenn man versehentlich auf ein solches Hündlein tritt. Nicht, dass ich aus Erfahrung spräche…

Mein leerer Magen zieht mich magnetisch zur Stadtmitte, vorbei an herrschaftlichen Theatern und Museen. Standhaft lasse ich den McDonalds neben mir liegen. So tief bin ich noch nicht gesunken! In einem fremden Land voller Möglichkeiten einem globalen Massenfraß zu frönen! Ich hole mir stattdessen an der nächsten Straßenecke ein Stück Pizza.

Schließlich lasse ich mich an der Straßenbahnhaltestelle nieder und warte auf meinen Zug. An der Haltestelle „Pisarky“ gibt es Treppen, Geländer, ein überdachtes Wartehäuschen. Urbaner Raum! Denken zumindest die acht Parcours-Sportler, die dieses Gelände nutzen, um atemberaubende Sprünge, Saltos, Drehungen und sonstige Kunststücke zu üben. Ich bin in der Großstadt!, sage ich zu mir selbst. In meiner neuen Stadt, der Metropole Brno! Das zufriedene Grinsen auf meinem Gesicht will einfach nicht verschwinden.

Mittwoch, 22. September 2010

Willkommen zu Hause!

Beinahe hätte ich den Start in mein neues Leben verschlafen. Hätte meine Mitbewohnerin und –freiwillige Teresa mich nicht geweckt, wäre ich wohl erst in Budapest wieder zu mir gekommen. (Könnte mit dem allzu genauen Kennenlernen der tschechischen Kultur zusammenhängen.) So aber stehe ich völlig unvorbereitet auf dem Bahnsteig, Motorenlärm, Menschenmassen, Leuchtreklamen, Farben, Gerüche, Geräusche Brnos dringen auf mich ein; und schon hat uns unser lächelndes Empfangskommando erspäht, nimmt uns unsere Koffer ab und redet in einem wüsten Kauderwelsch aus Tschechisch, Englisch, Deutsch und internationaler Gebärdensprache drauflos; dann stößt auch noch Talita, die Dritte im Bunde der Brno-Freiwilligen, dazu; und ab geht’s übers Kopfsteinpflaster. Sack und Pack verfrachten wir ins Auto, uns selber in ein Café; doch auch hier bleibt kaum Zeit zum Zu-sich-kommen; nach einer hastig ausgetrunkenen Kofola geht’s schon weiter durch enge Gassen und überfüllte Einkaufsstraßen; rein in den Handyladen, neue Telefonnummer aussuchen, SIM-Karte kaufen, wieder raus; zurück zum Bahnhof, Passbilder machen; zurück auf die Einkaufsstraße, rein in den Ticketschalter, Passbild abgeben, Monatskarte dafür bekommen; zurück zum Auto, Fahrt zur Wohnung, Koffer schleppen, Schlüsselübergabe, Tür zu. Ruhe.

Moment! Das soll meine erste Begegnung mit meinem neuen Zuhause sein? So hab ich mir das aber nicht vorgestellt! Hat überhaupt mal irgendwer gefragt, ob ich denn schon bereit dafür bin? Ich meine, klar beschäftige ich mich seit Monaten mit nichts anderem. Ich habe mich mit meinem Sprachkurs rumgeschlagen, ein Praktikum absolviert, mir einen Reisepass ausstellen lassen, Unmengen an Unterwäsche besorgt, gelernt, wie man eine Waschmaschine bedient und Pfannkuchen macht, Skype installiert, mit meinen Freunden Abschied gefeiert- Aber das heißt doch noch lange nicht, dass ich innerlich auf diesen Moment vorbereitet bin! Ich habe ihn mir so oft vorgestellt. Immer gleich. Und immer anders als genau jetzt. – Im Vergleich mit den unzähligen Traumbildern kann die Realität nur verlieren.

Habe ich mir das wirklich genau überlegt, so ein Jahr, so ganz allein, in einer kalten, grauen Wohnung mit harten Betten, weit weg von Zuhause? Ich kann mich auf einmal nicht mehr richtig erinnern.

Es hilft nichts, jetzt muss ich da durch, und da schon mal da bin, kann ich mir ja auch mal die Wohnung ansehen: Es gibt eine Küche, ein WC, ein Bad und drei Zimmer. Jedes ist bis zum Rand vollgestopft mit all den Dingen, die es dem Vermieter und mehreren Freiwilligengenerationen nicht wert waren, mitgenommen zu werden: vertrockneten Zimmerpflanzen, leeren Whiskeyflaschen, Windlichtern, Schallplatten, scheußlichen Glasvitrinen, billigen Aquarellen, Koffern, Körben und –tata!- zwei riesigen verstimmten Flügeln. Kurzum: die Wohnung ist total zugemüllt. Allerdings ist sie schön warm. Und grau ist sie auch nicht gerade. Die Wände tragen vielmehr einen undefinierbaren Gelbton. Und allein bin ich ja nun wirklich nicht. Meine beiden Mitbewohnerinnen sind nett. Ziemlich sogar. Und der Empfang am Bahnhof war doch eigentlich auch ganz schön herzlich. Und soooo weit ist es jetzt auch wieder nicht von Zuhause nach Brünn.
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Und war das Sich-einsam-und-verlassen-fühlen nicht von Anfang an Teil des Plans? Ich krame die Reisebeschreibung heraus. „Das ultimative Wagnis: Ein Jahr im Ausland“, steht da. „Enthält: Orientierungslosigkeit, Kommunikationsprobleme, Heimweh, Kulturschock, Einsamkeit, Reifeprüfung, Erwachsen-werden, Langeweile, Unabhängigkeit, sinnvolle Tätigkeiten, neue Freunde, unvergessliche Erfahrungen. Nicht geeignet für Kinder über 18 Jahren.“ Genauso hatte ich es gebucht.
Höchste Zeit, jetzt noch das mit den Betten zu testen.

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Lieber Herr Prof. Ehrle,...
Lieber Herr Prof. Ehrle, vielen Dank für ihr fortgesetztes...
evamariawalther2 - 18. Sep, 13:51
https://www.asf-ev.de/de/e inblicke/lebenszeichen-vom -freiwilligendienst/eva-ma ria-walther.html
https://www.asf-ev.de/de/e inblicke/lebenszeichen-vom -freiwilligendienst/eva-ma ria-walther.html
EvaMariaWalther - 10. Jun, 18:30
Nachtrag: Ganze 1 1/2...
Nachtrag: Ganze 1 1/2 Wochen hat meine Fahrsperre gedauert....
EvaMariaWalther - 10. Mär, 23:26
https://www.asf-ev.de/de/e inblicke/lebenszeichen/eva -maria-walther.html
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EvaMariaWalther - 10. Mär, 23:21
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