Samstag, 18. September 2010

Leaving Hirschluch on a Schnellzug

Vorbereitungsseminar in Hirschluch – das sind harte Betten, wässriger Schullandheimtee und eine chronische Müdigkeit, Mücken, kindische Aufwärmspiele und dauerbesetzte Duschkabinen. Das sind aber vor allem immer neue Antworten auf dieselben Fragen. Allein auf die Frage „Woher kommst du? Wohin gehst du? Was hast du für ein Projekt?“ erhält man im Laufe der Woche 130 unterschiedliche; genauso viele Jugendliche werden hier auf ihren Freiwilligendienst im Ausland vorbereitet. Aber auch andere Probleme werden hier kontrovers besprochen: Wird die Schuld für begangene Verbrechen auf nachkommende Generationen vererbt? Sollte man Menschen mit Behinderung eher viel Begleitung gewährleisten oder ihnen eine größtmögliche Eigenständigkeit ermöglichen? Gibt es so etwas wie ein biologisches Geschlecht, oder ist das sozio-kulturelle Umfeld für Charakter und sexuelle Orientierung ausschlaggebend? „Können wir darüber diskutiere?“ ist der Satz, der am häufigsten fällt. Was folgt, ist ein wilder Ritt durch die unwegsamsten Gefilde der Argumentation, da werden Reden geschwungen und Zweifel bekundet, das gesamte Schul-und Fernsehwissen ausgepackt, ausgebreitet, innerhalb weniger Minuten ein ganzes Weltbild aufgestellt und analysiert, und das alles in alle vier Himmelsrichtungen und ohne Rücksicht auf die Geduld der Zuhörer. Wen interessiert schon zielgerichtete Konversation? Die Vielzahl an unterschiedlichen Anschauungen zählt, die Schönheit des Diskurses. Danach wird ein Lied gesungen (am liebsten ein Kanon, den kriegt wirklich jeder hin, und in wenigen Sekunden wabert das schönste polyphone Klanggebilde durch den stickigen Seminarraum). Denn im Grunde sind sich doch alle einig: Wirklich wichtig ist, dass alle Meinungen gleich viel wert sind. Alle Lebensentwürfe müssen toleriert und bei Bedarf gefördert werden. Das ist es, was uns die jüngere Geschichte lehrt. Steht alles im Gründungsaufruf! Man muss es nur nachlesen.
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"Ich mache Ihnen keine Vorwürfe. Sie sind die junge Generation, Sie haben nichts verbrochen, aber Sie können dafür sorgen, dass so etwas nie wieder geschieht“, sagt die Holocaustüberlebende Margot Friedländer.* Über ihre Erfahrungen im Berliner Untergrund und im Konzentrationslager Teresienstadt hat sie ein Buch geschrieben, aus dem sie jetzt vorliest. Seit kurzer Zeit lebt sie wieder in Deutschland, in einem Seniorenwohnheim. Empfindet sie keine Bitterkeit, wenn sie in die Augen ihrer Mitbewohner, die ja damals zu den Tätern hätten gehören können, blickt? „Nein. Es ist unheimlich belastend, die Vergangenheit immer mit sich herumzutragen. Finden Sie es nicht viel besser, sich stattdessen um die Zukunft zu kümmern?“ Ist es ihr also gleichgültig, wenn sie aus ihren Memoiren liest? „Nein. Es ist mein Leben. Und es berührt mich. Jedes Mal.“ Besser könnte kein Öffentlichkeitsbüro die Notwendigkeit der Arbeit von ASF erklären.
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Auf dem Länderabend für die Tschechienfreiwilligen gibt es heiße Schokolade und Karlsbader Oblaten, aus den Boxen kommt lustige tschechische Musik. „Rychlik jede do Prahy“, der Schnellzug fährt nach Prag, heißt ein Lied. Ein Titel, der Sehnsucht weckt. „Nicht weg, nicht hier“, so könnte man den seltsamen Zustand in dem Dorf nahe Berlin nennen. Alle sind voller Tatendrang, den Koffer bis zum Rand gepackt mit Plänen, Erwartungen und einer ordentlichen Portion Idealismus. Aber sie sollen nicht gehen ohne einen umfangreichen Input in Sachen Geschichiche, Gesellschaft und Politik. Im Haus der Wannseekonferenz, im Jüdischen Museum in Berlin oder bei einer Führung durch Neukölln, immer unter der Leitung des kompetenten und hochmotivierten Teams, wird einem vieles klar und viele Zusammenhänge bewusst. Das alles macht sehr viel Spaß und ist ergiebiger als viele Wochen Schulunterricht. Aber irgendwann ist dann auch mal Schluss mit Theorie.
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Der letzte Tag. Die Freiwilligen sollen einen Brief an sich selbst schreiben Der wird dann aufbewahrt und ihnen in einem Jahr, nach ihrem Freiwilligendienst, wiedergegeben. Was schreibt man seinem zukünftigen Ich? Woher soll man wissen, worüber man sich bei der Heimkehr Gedanken machen wird, wenn man noch nicht mal unterwegs ist? Wie kann man vorausahnen, unter welchen Vorzeichen man das Resümee eines ganzen Jahres ziehen wird? Manche Fragen bleiben auch noch ohne Antwort. Zum Glück. "Leaving Hirschluch on a Jetplane" singen die Teamer zum Abschied. Ein Schnellzug tuts auch.

*Äußerungen sinngemäß wiedergegeben

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Lieber Herr Prof. Ehrle,...
Lieber Herr Prof. Ehrle, vielen Dank für ihr fortgesetztes...
evamariawalther2 - 18. Sep, 13:51
https://www.asf-ev.de/de/e inblicke/lebenszeichen-vom -freiwilligendienst/eva-ma ria-walther.html
https://www.asf-ev.de/de/e inblicke/lebenszeichen-vom -freiwilligendienst/eva-ma ria-walther.html
EvaMariaWalther - 10. Jun, 18:30
Nachtrag: Ganze 1 1/2...
Nachtrag: Ganze 1 1/2 Wochen hat meine Fahrsperre gedauert....
EvaMariaWalther - 10. Mär, 23:26
https://www.asf-ev.de/de/e inblicke/lebenszeichen/eva -maria-walther.html
https://www.asf-ev.de/de/e inblicke/lebenszeichen/eva -maria-walther.html
EvaMariaWalther - 10. Mär, 23:21
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EvaMariaWalther - 2. Sep, 22:29

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