ASF

Sonntag, 15. Mai 2011

Alle bleiben!

Während in Frankreich letztes Jahr Massen auf die Straße gingen, um die Abschiebung von tausenden Roma nach Rumänien zu verhindern und damit europaweit Zustimmung ernteten, werden seit 2003 regelmäßig Roma aus Deutschland ausgeflogen – und kaum einer empört sich.

Bis 2013 sollen knapp 10 000 Roma aus der Bundesrepublik abgeschoben werden. Es handelt sich um Flüchtlinge, die in den frühen 90ger Jahren Krieg, Vertreibung und dem Völkermord im damaligen Jugoslawien entkommen konnten. Seit fast 20 Jahren leben diese Menschen nun schon in Deutschland, ihre Kinder haben zum größten Teil nie Serbisch oder Albanisch gelernt. Um ihre Rückkehr zu ermöglichen, hat der Kosovo zwar ein Rückübernahmeabkommen unterzeichnet. Gewartet hat dort allerdings niemand auf sie. Stattdessen erwartet sie, wie vor 20 Jahren, Hass und Ausgrenzung durch die Mehrheitsgesellschaft. Die Romasiedlungen wurden seinerzeit größtenteils dem Erdboden gleichgemacht, die Aussicht auf Bildung, Arbeit und Gesundheitsfürsorge sind denkbar gering.

Wie groß wäre der wirtschaftliche Schaden für Deutschland, sollte es die Roma hierbehalten? Denkbar gering, es sind ja gerade einmal 10 000. Die Politik müsste über diesen Umstand durchaus informiert sein, bleibt aber passiv. Wahrscheinlich genau deshalb: Weil es gerade einmal 10 000 Menschen betrifft.

Die betrifft es dafür umso mehr. Eine Abschiebung ist jedes Mal eine menschliche Tragödie. Dass darüber kaum einer Bescheid weiß, die Medien kaum berichten und sich somit kaum Widerstand formieren kann, könnte damit zusammenhängen, dass Antiziganismus, also die Ressentiments gegenüber Menschen, die als Zigeuner stigmatisiert werden, in unseren Tagen die am weitesten Verbreitete Form von Rassismus ist. Ja, in vielen Ländern Europas ist sie beinahe schon gesellschaftlicher Konsens.

Die von Romaverbänden gestartete Initiative „Alle bleiben“ gestalten sich daher als schwierig. 10 000 Unterschriften sollen bis Jahresende zusammen mit einer Petition bei der Bundesregierung eingereicht werden, 2500 sind es bis jetzt.
Zusammen mit ASF wollen sie jetzt den evangelischen Kirchentag, der im Juni in Dresen stattfindet, nutzen, um ein breites Publikum auf ihr Anliegen aufmerksam zu machen.

Spannende und lustige Tage in Dresen.
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Und wie macht man große Mengen an Menschen auf sich aufmerksam? Natürlich mit Straßentheater! So zumindest der Plan des Kampagnenteams von ASF, der sich an einem sonnigen Maiwochenende zwecks Vorbereitung zum ersten Mal in Dresden traf (und der rein zufällig auch ich angehöre). Los ging´s aber erst mal mit Tortellini und gegenseitigem Kennenlernen im evangelischen Gemeindezentrum des Stadtteils Trachau. Die ebenso nette wie motivierte Gruppe setzt sich vor allem aus Mitgliedern der Regionalgruppe Sachsen, aktuellen Tschechienfreiwilligen und einer Delegation aus Berlin zusammen. Von der Roma-Organisation Amaro Drom hatten sich ebenfalls 5 Vertreter angekündigt, die allerdings noch etwas auf sich warten ließen. So ließen wir uns erst mal von Dipl. Pol. Markus End, dem eigens angereisten Wissenschaftler am berliner Zentrum für Antisemitismusforschung und Experten für Antiziganismus, auf seinem Fachgebiet schlau machen. Erschreckend, zu hören, wie viele tätliche Übergriffe, Brandanschläge auf Roma es in den vergangenen Jahren nicht nur in Tschechien, der Slowakei und Ungarn, sondern auch in Deutschland gab. Oder dass sich vielerorts in Stadtteilen mit großer Romapopulation Bürgerinitiativen gründen, um über einen Umgang mit dem „Problem“ zu diskutieren – freilich unter Ausschluss der Angesprochenen. Markus forscht zum Thema „Romabild in der Mehrheitsgesellschaft“ und befindet, dass sich alle Vorurteile gegenüber sogenannten „Zigeunern“ auf zwei Aspekte herunterbrechen lassen: deren angenommene Heimatlosigkeit (Zugehörigkeit weder zur eigenen, noch zu einer anderen Gesellschaft) und deren unterstelltes Parasitentum (Klauen, Betteln, Schmarotzen als ungebetener Gast in der Gesellschaft). Diese ebenso negativen wie falschen Vorstellungen existieren in Deutschland seit dem 16. Jahrhundert quasi unverändert.

Keine halbe Stunde nach diesem anregenden Vortrag treffen die Roma ein: Sechs Stunden später als vereinbart und außerdem nur zu zweit anstatt zu fünft. Eine Stimme irgendwo in meinem Kopf gibt ein leicht verächtliches „typisch“ von sich. Ich ertappe mich dabei und rüge mich sofort dafür. Mir erging es jedoch nicht alleine so – in einem Gespräch in gemütlicher Runde am nächsten Abend geben einige ASFler zu, im ersten Moment ähnliche Gedanken gehabt zu haben. Gemeinsam erschrecken wir darüber, wie viel Selbstdisziplin und Konzentration manchmal nötig ist, um sein Denken ganz von bestimmten Mustern frei zu halten – selbst bei Menschen, die sich aktiv gegen Rassismus einsetzten.

Spätestens, nachdem wir Esso und Issi, die neu angekommenen Gäste, genauer kennen gelernt haben, ist es damit natürlich vorbei.
Am nächsten Morgen hat Esso seinen großen Auftritt: Er zeigt ein Video von den Aktionen des Romazentrums in Göttingen, in dem er sich engagiert. Musik Gesang, Tanz, aufgeregtes Geplauder in Deutsch und Romani, Gelächter und Ausgelassenheit sind da zu sehen. Dann folgt ein zweiter Film, der abgeschobene Familien im Kosovo zeigt. Jugendliche und Kinder sitzen in heruntergekommenen Wohnungen und erzählen in fehlerfreiem Deutsch von Arbeitslosigkeit, Dreck, Armut und Gefängnisaufenthalten. Dann ergreift Esso das Wort, echauffiert sich über Schikane durch die Politik, Rassismus in der Bevölkerung, systematische Diskriminierung, zerstörte Existenzen im Kosovo. Dabei schießt er vielleicht ein paar Mal etwas über das Ziel hinaus, aber das kann man einem, der sich schon von vielen Freunden und Verwandten verabschieden musste, beim besten Willen nicht übel nehmen. Umso motivierter macht sich die ganze Gruppe gleich im Anschluss an die Arbeit.

Der nächste Programmpunkt ist nun endlich der Theaterworkshop unter der Anleitung von Frank Hohl. Innerhalb eines Tages vollbring der freischaffende Theaterpädagoge ein kleines Wunder: Stundenlang und unermüdlich tollt die bunt gemischte Gruppe, aus der kaum einer vorher schon Erfahrungen auf dem Gebiet der Schauspielerei gesammelt hat, über den Rasen vor der Kirche; wir rennen, schleichen, bauen Standbilder, produzieren alberne Geräusche und Bewegungen und bauen dabei sicher die eine oder andere Blockade ab. Am Ende des Tages sind schließlich acht kleine, aber ausdrucksstarke Szenen entstanden, die sich allesamt um das Thema Abschiebung drehen: Da ist Leid und Abschied zu sehen, Integration und Assimilation, Ausgrenzung und Entwurzelung, Wut und Fassungslosigkeit. Und das alles ohne Worte. Wer sich interessiert, möge zum Kirchentag kommen und sich mit eigenen Augen überzeugen.
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Hochzufrieden mit dem vollbrachten freuen wir uns auf einen gemütlichen Ausklang des Abends, als Esso eine SMS erhält: Eine befreundete Familie hat den so gefürchteten Brief bekommen. Sie soll in Kürze abgeschoben werden. Die zwei Roma zögern nicht lange, sie packen ihre Sachen und fahren zurück nach Göttingen, um der Familie mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Die Realität drängt sich auf einmal mit Macht in unsere kleine Gruppe. Abschiebungen passieren wirklich in Deutschland, immer wieder. Es wird Zeit, dass diese höchst fragwürdige Unternehmung endlich aufhört! Wer sich berufen fühlen sollte, selbst aktiv zu werden, findet auf der folgenden Seite alle nötigen Unterlagen, um selbst auf Unterschriftenjagd zu gehen: http://www.alle-bleiben.info/info-pro.htm

Samstag, 7. Mai 2011

Jüdische Tradition kennen lernen und erhalten - Brigade in Lostice

(feat. Teresa Nowak)
Schulklassen durch Gedenkstätten führen, Senioren zu Hause besuchen, in einer sozialen oder kulturellen Einrichtung zur Hand gehen: so sieht Freiwilligenarbeit für uns ASF-Freiwillige normalerweise aus. Wir arbeiten allein und eigenständig in unseren Projekten vor Ort und besuchen uns gegenseitig an den Wochenenden. Das ist auch gut so, denn nur so waren wir in den letzten Monaten gezwungen, uns in unsere neue Umfelder zu integrieren, Tschechisch zu lernen, unsere KollegInnen kennenzulernen und eigene Ideen und Projekte zu entwickeln. Manchmal macht es aber viel mehr Spaß, gemeinsam mit Gleichgesinnten anzupacken und zusammen etwas auf die Beine zu stellen. Daher leisteten wir Tschechien-Freiwillige, wie bereits unsere VorgängerInnen, einen Arbeitseinsatz auf einem jüdischen Friedhof. Wir acht plus unsere Länderbeauftragte Staňa Šimuniová wählten ein Wochenende im April aus, buchten eine Unterkunft, packten alte Kleidung ein und machten uns auf den Weg.

Bevor wir uns so richtig in die Arbeit stürzten, stand aber noch eine interessante Lehrstunde in Sachen jüdischer Religion und Tradition auf dem Programm. Herr Papousek, seines Zeichens Kantor der jüdischen Gemeinde in Olomouc, hieß uns sehr nett willkommen und informierte uns über die Geschichte und Gegenwart seiner Gemeinde ebenso wie über Gebetsrituale, Feiertagsbräuche und kulinarische Besonderheiten. So lernten wir am praktischen Beispiel, wie man Challa, das typische jüdische Sabbatbrot, zubereitet. Ausgestattet mit zwei Kisten ebendieses Brotes und zwei Flaschen koscheren Weins machen wir uns endlich auf den Weg zum Ort unseres Arbeitseinsatzes, nach Loštice.

In Loštice, einer gemütlichen Kleinstadt im Herzen Mährens, gibt es im Gegensatz zu Olomouc keine jüdische Gemeinde mehr. Das war nicht immer so: Jahrhundertelang existierten Juden und Christen in geradezu vorbildlicher Weise neben- und miteinander. Christliche und jüdische Schüler besuchten die gleiche Schule, und auch das Kulturprogramm wurde gemeinsam bestritten, zum Beispiel in einer Amateurtheatergruppe. Mit der Naziokkupation und dem Holocaust nahm diese friedliche Nachbarschaft ein jähes Ende. Heute zeugen vom jüdischen Leben in Loštice nur die Synagoge, die inzwischen frisch renoviert als Museum, pädagogisches Zentrum und Ort des Gedenkens dient.
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Und der jüdische Friedhof, auf dem fast 400 Jahre lang die verstorbenen Mitglieder der jüdischen Gemeinde beigesetzt wurden. Unter ihnen auch Fanny Neuda, Verfasserin des ersten jüdischen Gebetsbuches für Frauen. Die Angehörigen der hier Bestatteten sind zum größten Teil in den Konzentrationslagern ums Leben gekommen oder wohnen im weit entfernten Ausland. So ist es inzwischen zur Tradition geworden, dass sich ASF-Freiwillige aus Deutschland, deren Vorfahren schließlich Schuld an diesem Umstand tragen, sich einmal im Jahr um die Erhaltung und Pflege des Geländes kümmern. So auch wir.
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Es gab an diesem Wochenende für uns Freiwillige auf dem Friedhof genug zu tun: Reisig musste aufgesammelt und verbrannt, Hecken zurückgeschnitten, überwucherte Grabsteine wieder freigelegt werden. Im milden Frühlingswetter kamen wir ganz schön ins Schwitzen und freuten uns abends umso mehr auf die deftige Mahlzeit, das kühle Bier und das weiche Bett im Hotel. Unser Ansprechpartner vor Ort, Herr Štípl, sorgte dafür, dass alles reibungslos funktionierte, versorgte uns mit dem nötigen Arbeitsmaterial und darüber hinaus mit erstaunlichen Informationen zum Thema „Judentum und Tod“: Wer hätte gedacht, dass das Reinigen und Bekleiden von Toten als verdienstvolle und angesehene Tätigkeit gilt? Dass auf jüdischen Grabsteinen kunstvoll möglichst viele Informationen zum Lebenslauf und Charakter des Verstorbenen untergebracht werden? Oder dass der Sohn des Verstorbenen nach dem Tod des Vaters ein Jahr lang regelmäßig ein bestimmtes Gebet spricht? So lange dauert die Gerichtsverhandlung im Jenseits, die über den Verbleib der Seele entscheiden soll. Als letztes (entscheidendes?) Argument kurz vor dem Urteilsspruch soll der gottesfürchtige Sohn ins Feld geführt werden können, dessen Erziehung dem Vater offensichtlich gelungen ist.
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Die Frucht unserer Arbeit konnte sich nach zwei Tagen durchaus sehen lassen: Der jüdische Friedhof erstrahlte in neuem Glanz. Wir nahmen Abschied von Loštice und seinen Bewohnern. Auf dem Heimweg bot sich ein Besuch der historischen Altstadt von Olomouc an, bevor alle wieder in ihre Städte und Projekte zurückkehrten.

Samstag, 19. März 2011

Anti-Nazi-Demo Dresden

Samstag, 19.02.2011, 3.50: Eine Gruppe von acht Freiwilligen tritt auf die menschenleere Straße von Theresienstadt. Verschwiegen und im Laufschritt bewegen sie sich durch die stockfinstere Gedenkstätte, die früher ein NS-Ghetto und Konzentrationslager war. Bald verlassen sie die ehemalige Festung durch ein Tor. Sie sind auf dem Weg zum Bahnhof Bohusovice, von wo aus sie nach Dresden zu einer der größten Anti-Nazi-Demos Deutschlands fahren werden.

Gleicher Ort, gleiche Gruppe, ein Tag zuvor: Wir stehen um Jannik, der als Freiwilliger in der Gedenkstätte arbeitet. Hören, dass durch eben dieses Tor die Insassen, hauptsächlich Juden, in das Lager gelangten, völlig erschöpft von dem Gewaltmarsch mit 50 Kilo Gepäck vom Bahnhof Bohusovice ins Lager.

Keine Privatsphäre, ärmliche sanitäre Einrichtungen, bis zu 12 Stunden Zwangsarbeit täglich, willkürliche Verbreitung von Angst und Schrecken durch die SS, konstante Konfrontation mit Krankheit und Tod: So sah er aus, der Alltag der insgesamt 141184 Lagerinsassen, die zwischen 1941 und 1945 im Ghetto Theresienstadt interniert waren. Das Erschreckende ist, dass dennoch viele Holocaustüberlebende das Ghetto in guter Erinnerung behalten haben: nämlich diejenigen der
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Auch in den Räumen, in denen wir für die Dauer des Seminars untergebracht sind, haben vor 70 Jahren Dutzende Menschen in dreistöckigen Betten gewohnt. Eine bessere Motivation für eine Anti-Nazi-Demo als drei Tage in Theresienstadt kann es nicht geben.

Selbst das entsetzlich frühe Aufstehen haben wir in Kauf genommen, denn wir wollen am liebsten vor den Nazis am Ort des Geschehens sein. Der Plan geht auf. Als wir in Dresden ankommen, ist der Bahnhof bis auf uns und einer ganzen Menge Polizisten menschenleer. Bei einer Tasse Kaffee kommen wir so langsam zu uns. Dann setzten wir uns in Bewegung in Richtung Marienbrücke, wo laut Internet eine Eröffnungskundgebung geplant ist. Illegal natürlich, denn im Gegensatz zu den gleich drei angemeldeten Naziaufmärschen wurde unsere Demonstration nicht offiziell genehmigt. Welch verkehrte Welt! Die Polizei soll die Nazis vor uns beschützen! Am Zugang zu den Gleisen werden von der Polizei unsere Tickets kontrolliert. Kurzes Herzklopfen, als sie auch unsere Plakate ansehen will. Wie ist das, Schilder mit sich zu führen, die ziemlich offensichtlich für eine nicht erlaubte Demo gedacht sind? Der kleine Maulwurf, die tschechische Berühmtheit aus dem Kinderprogramm, lächelt ihnen darauf entgegen und präsentiert Parolen wie „Nazis zum Nordpol“ und „Bei Nazis buddel ich noch nicht mal im Garten“. Vorsichtshalber zeigen wir mal nur die tschechische Version der Sprüche. Und werden durchgelassen. Erleichtert fahren wir los in Richtung Elbe.
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Auch an der Marienbrücke müssen wir erst mal eine Polizeikette durchqueren. Die Brücke ist abgeriegelt, ans andere Ufer kommt man schon nicht mehr. Eine beachtliche Menschenmenge hat sich bereits versammelt und wartet gespannt darauf, was passiert. Das ist zunächst einmal ziemlich wenig. Bis plötzlich die Polizei auch in die andere Richtung niemanden mehr durchlässt. Eingekesselt, isoliert stehen wir da, haben keine Ahnung, was rings um uns geschieht, und so langsam beschleicht mich die Angst, dass wir von hier nicht mehr wegkommen. Was, wenn wir hier den ganzen Tag in der Eiseskälte ausharren und tatenlos zusehen müssen, wie die Nazis ihren Blödsinn verbreiten?

Unsere lustigen, bunten Plakate werden überall mit einem Lächeln bedacht und dutzende Male fotografiert. Besonders die anwesenden Tschechen (und das sind gar nicht mal so wenige) freuen sich, wenn sie uns sehen –die jungen Kommunisten der Tschechoslowakei oder das Personal vom Tschechischen Rundfunk. Besonders lustig wird’s, als wir uns mit den Grünen aus Ustí nad Labem zusammenschließen – auch die schleppen „Krtecek“ auf einem riesigen Transparent vor sich her.

Irgendwann meldet irgendjemand unsere Kundgebung an. Damit sind wir nun nicht mehr illegal. Von einem Bühnenwagen aus werden abwechselnd politische Ansagen gemacht und Musik gespielt. Zwischendurch hat auch Claudia Roth einen kleinen Auftritt, sagt ein paar prägnante Sätze zum Opfermythos, der Verantwortung der Zivilbevölkerung im Kampf gegen Rechtsextremismus und endet mit „Alerta, alerta- Antifacista!“. Kurz darauf verwandelt sich die Kundgebung in eine Demonstration. Polizei, Demonstranten und Lautsprecherwagen setzten sich in Bewegung in Richtung Hauptbahnhof. „Wir sind hier, um die Naziaufmärsche zu stoppen, aber wenn wir nebenbei noch heimlich ein bisschen Spaß haben, stört das doch niemand“, meint ein Typ auf der fahrbaren Bühne. Und tatsächlich: Mit all den bunten Schildern, Transparenten und Plakaten, verkleideten und tanzenden Menschen und der lauten Musik aus den Boxen könnte man unsere Prozession leicht mit einem Karnevalsumzug verwechseln. Nazis sind wir immer noch nicht begegnet. Aber der lokale Radiosender, der nonstop über die Lage vor Ort informiert, berichtet, dass schon welche gesichtet wurden. Unter anderem am Hauptbahnhof. Allerdings verlässt sich der Sender allein auf Höreranrufe, die mitunter von allzu spektakulären Straßenkämpfen, brennenden Barrikaden und Wasserwerfer- und Pfeffersprayschlachten erzählen. Ganz vertrau ich den Infos nicht, aber immerhin erfahren wir auf diese Weise, dass es an anderen Schauplätzen anders zugeht als bei uns.

Unser kleiner Zug erreicht endlich den Bahnhof. Auch hier keine Spur von den Rechtsextremisten zu sehen. Dafür singt Konstantin Wecker. Meine Frustration wächst. Bringt es überhaupt irgendwas, was wir hier veranstalten? Plötzlich gibt es eine allgemeine Aufregung, die Menschenmasse verlagert sich wieder in Richtung Stadt und splittet sich auf. Jeder Passant, der uns auf der Straße entgegenkommt, hat eine andere Information. Wir irren ziellos umher, ständig auf der Suche nach einem Brennpunkt, einer sinnvollen Betätigung, nach den Nazis eben. Die aber halten sich bedeckt. Tine vermutet schon, es gäbe in Wirklichkeit gar keine Rechten und das Ganze sei nichts anderes als ein gewaltiges, geplantes soziologisches Experiment.

Da laufen uns plötzlich ein paar Mitglieder des linksautonomen Blocks entgegen. Schwarz gekleidet, vermummt und mit Schlagstöcken ausgestattet, gehören sie zu den unangenehmeren Erscheinungen auf dieser Demo. Ein paar Meter weiter entdecken wir, was die Aufregung verursacht hat. Von der Straße aus, in weiter Entfernung, sieht man, auf dem Bahnsteig einer S-Bahnhaltestelle, eine schwarz-weiß-rote Fahne wehen. Drum herum: Ein Pulk von ca. 30 Nazis. Es gibt sie also doch, die Menschen, die all das, was wir in den letzten Tagen erfahren haben, zu relativieren versuchen oder gar leugnen. Da stehen sie und skandieren irgendwelche Parolen, von denen man kein Wort versteht. Wüste Beschimpfungen fliegen durch die Luft, „Nazis raus!“ und „Verpisst euch!“ gehört noch zu den netteren Dingen, die die Rechten zu hören bekommen, und fast bin ich schon froh, das so viel Luft zwischen mir und ihnen liegt, denn auch mir wird vor lauter aufgestauter Aggression ganz anders. Dann wird die Horde von einer ebenso großen Gruppe Polizisten in einen Zug verfrachtet, und der ganze Spuk ist vorbei.

Wir huschen noch einige Zeit weiter durch die Stadt, ständig auf der Jagd nach neuen, aktuelleren Informationen. Irgendwann verbreitet sich die Nachricht, die Aufmärsche können heute endgültig nicht durchgeführt werden und die Nazidemonstration werde von der Polizei aufgelöst. Triumph! Ein paar Nazis wollen noch in einem weit entfernen Vorort von Dresden marschieren. Ein kleiner Rückschlag, den wir angesichts der erfolgreichen Blockade aber verkraften können. Zum zweiten Mal an diesem Tag kehren wir in ein Café ein und feiern unseren Sieg über den Faschismus. So langsam beruhigen sich die Gemüter auch wieder. Klar, man kann Nazidemonstrationen nicht einfach so verbieten. Meinungsfreiheit und so. Aber wer sagt, dass die Zivilgesellschaft das einfach so hinnehmen muss?

Dann müssen wir noch unsere Plakate loswerden- man könnte ja auf dem Heimweg ein paar Nazis über den Weg laufen. Tine biete sie großzügig ein paar Linksautonomen an. Reaktion: Angsterfüllte Augen und energisches Kopfschütteln. So findet unser Krtek an einem Bauzaun in Dresden sein neues Zuhause.

Das Fazit zu diesem Tag steht auf dem Plakat, das ein etwa achtjähriges Kind in die Höhe hält, zu lesen. Auf dem Plakat steht: „Nazis sind doof.“.

Montag, 20. September 2010

Prag - Ale Ahoj!

Über zwei Dinge waren sich alle acht Tschechienfreiwillige sehr schnell einig. Erstens: Niemand von uns wollte eigentlich an erster Stelle nach Tschechien. Zweitens: Es ist dennoch das mit Abstand beste Land von allen. Wo kann das Leben lebenswerter sein als in dem Land, das der Welt Karel Gott, Dolly Buster und den škoda gegeben hat?
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Unsere Länderbeauftragte tragen mit ihrem herzlichen Empfang einen wesentlichen Teil dazu bei, uns in der oben genannten Ansicht zu bestätigen. Klaudia, die lebhafte Macherin von der Ostseeküste, hat für all unsere Fragen und Sorgen ein offenes Ohr und verbreitet 24 Stunden am Tag gute Laune. Und Stana, die wahrscheinlich coolste Novizin der Welt, lässt uns von ihrem umfangreichen Insiderwissen profitieren – egal, ob es um böhmische Geschichte oder Prager Nightclubs geht.

In Prag angekommen, steht erst mal ein Sprachkurs auf dem Stundenplan. Die Angst mancher Freiwilliger vor diesem Part erweist sich als unbegründet: Manchmal ist Spracherwerb auch sehr einfach. Die wichtigsten Trinksprüche hat man zum Beispiel sehr schnell drauf: Man sagt „na svobotu“ (auf die Freiheit), „na zdraví“ (auf die Gesundheit) oder „nadrazí“ (Bahnhof). Ein weiteres Muss für jeden Tschechienfreiwilligen: Ein gewisses Repertoire an Flüchen und Beschimpfungen. „Ty vole!“ (du Hornochse) wird hier gerne verwendet oder „do prdele“ (in den Arsch). Ernüchternd ist die Erkenntnis, dass sich nicht alle deutschen Sprachgewohnheiten 1:1 ins Tschechische übertragen lassen. Neuschöpfungen wie „Ale ahoj!“ (Aber Hallo!) oder „To je nemocný!“ (Das ist krank!) dienen sehr zu Erheiterung Stanas.

Natürlich steht auch Sightseeing auf dem Programm. Welch erhabenes Gefühl, bei strahlendem Septemberwetter durch die goldene Stadt zu wandeln und mit milder Herablassung die wuselnden Touristenherden zu beobachten. Was wissen die schon! Nächste Woche sind sie wieder zu Hause, dann existiert die Tschechische Republik für sie nur noch in Form eines Karluv most-Bildschirmhintergrundes. Wir sind Eingeweihte! Wir können sogar schon ein Bier auf Tschechisch bestellen! Mit einem überlegenen Lächeln und einem fröhlichen Lied (Im Zweifelsfalle: Die Biene Maja) auf den Lippen ist der Stadtrundgang gleich nochmal so schön.
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Ein weiteres Ziel der Orientierungstage besteht darin, sich intensiv mit der jeweiligen Landeskultur auseinanderzusetzten. Das Schlüsselwort lautet „teilnehmende Beobachtung“. Wer nun etwa denkt, dass in Tschechien hierbei Budweiser, Becherovka und Oplatky eine übergeordnete Rolle spielen – der liegt genau richtig. Und weil es so viel Spaß macht, Klischees zu bedienen, singen wir auf einem Empfang für die Vertreter unserer Projekte ein Lied voller tschechischer Lehnwörter: „Nach der štrapac geht’s in die kejpa,/ am štammtis trinken wir dann weiter,/ der Abschied von der kundšaft fällt schwer,/ die šnipticherl sind auch bald leer." Bezeichnend für diese Veranstaltung: Stana (Tschechin!) übersetzt den tschechisch sprechenden deutschen Vorsitzenden einer Partnerorganisation von ASF ins Deutsche. Die deutsch-tschechische Freundschaft ist weit fortgeschritten an diesem Abend.
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Auch sonst schlägt uns viel Sympathie entgegen. Eine ältere Dame kann es kaum fassen, dass sich deutsche Jugendliche in Tschechien für soziale Projekte engagieren. Als wir ihr den historischen Hintergrund für unsere Arbeit erklären, kann sie ihre Rührung kaum verbergen. Wir erfahren, dass ihr Vater in Theresienstadt war. Sie verschwindet unauffällig – um kurze Zeit später mit einem riesigen Karton voller süßer Teilchen wieder aufzutauchen.
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Diese Dankbarkeit müssen wir uns eigentlich erst noch verdienen - und darum geht es jetzt endlich richtig richtig los - mit der Arbeit in den Projekten!

Samstag, 18. September 2010

Leaving Hirschluch on a Schnellzug

Vorbereitungsseminar in Hirschluch – das sind harte Betten, wässriger Schullandheimtee und eine chronische Müdigkeit, Mücken, kindische Aufwärmspiele und dauerbesetzte Duschkabinen. Das sind aber vor allem immer neue Antworten auf dieselben Fragen. Allein auf die Frage „Woher kommst du? Wohin gehst du? Was hast du für ein Projekt?“ erhält man im Laufe der Woche 130 unterschiedliche; genauso viele Jugendliche werden hier auf ihren Freiwilligendienst im Ausland vorbereitet. Aber auch andere Probleme werden hier kontrovers besprochen: Wird die Schuld für begangene Verbrechen auf nachkommende Generationen vererbt? Sollte man Menschen mit Behinderung eher viel Begleitung gewährleisten oder ihnen eine größtmögliche Eigenständigkeit ermöglichen? Gibt es so etwas wie ein biologisches Geschlecht, oder ist das sozio-kulturelle Umfeld für Charakter und sexuelle Orientierung ausschlaggebend? „Können wir darüber diskutiere?“ ist der Satz, der am häufigsten fällt. Was folgt, ist ein wilder Ritt durch die unwegsamsten Gefilde der Argumentation, da werden Reden geschwungen und Zweifel bekundet, das gesamte Schul-und Fernsehwissen ausgepackt, ausgebreitet, innerhalb weniger Minuten ein ganzes Weltbild aufgestellt und analysiert, und das alles in alle vier Himmelsrichtungen und ohne Rücksicht auf die Geduld der Zuhörer. Wen interessiert schon zielgerichtete Konversation? Die Vielzahl an unterschiedlichen Anschauungen zählt, die Schönheit des Diskurses. Danach wird ein Lied gesungen (am liebsten ein Kanon, den kriegt wirklich jeder hin, und in wenigen Sekunden wabert das schönste polyphone Klanggebilde durch den stickigen Seminarraum). Denn im Grunde sind sich doch alle einig: Wirklich wichtig ist, dass alle Meinungen gleich viel wert sind. Alle Lebensentwürfe müssen toleriert und bei Bedarf gefördert werden. Das ist es, was uns die jüngere Geschichte lehrt. Steht alles im Gründungsaufruf! Man muss es nur nachlesen.
***
"Ich mache Ihnen keine Vorwürfe. Sie sind die junge Generation, Sie haben nichts verbrochen, aber Sie können dafür sorgen, dass so etwas nie wieder geschieht“, sagt die Holocaustüberlebende Margot Friedländer.* Über ihre Erfahrungen im Berliner Untergrund und im Konzentrationslager Teresienstadt hat sie ein Buch geschrieben, aus dem sie jetzt vorliest. Seit kurzer Zeit lebt sie wieder in Deutschland, in einem Seniorenwohnheim. Empfindet sie keine Bitterkeit, wenn sie in die Augen ihrer Mitbewohner, die ja damals zu den Tätern hätten gehören können, blickt? „Nein. Es ist unheimlich belastend, die Vergangenheit immer mit sich herumzutragen. Finden Sie es nicht viel besser, sich stattdessen um die Zukunft zu kümmern?“ Ist es ihr also gleichgültig, wenn sie aus ihren Memoiren liest? „Nein. Es ist mein Leben. Und es berührt mich. Jedes Mal.“ Besser könnte kein Öffentlichkeitsbüro die Notwendigkeit der Arbeit von ASF erklären.
***
Auf dem Länderabend für die Tschechienfreiwilligen gibt es heiße Schokolade und Karlsbader Oblaten, aus den Boxen kommt lustige tschechische Musik. „Rychlik jede do Prahy“, der Schnellzug fährt nach Prag, heißt ein Lied. Ein Titel, der Sehnsucht weckt. „Nicht weg, nicht hier“, so könnte man den seltsamen Zustand in dem Dorf nahe Berlin nennen. Alle sind voller Tatendrang, den Koffer bis zum Rand gepackt mit Plänen, Erwartungen und einer ordentlichen Portion Idealismus. Aber sie sollen nicht gehen ohne einen umfangreichen Input in Sachen Geschichiche, Gesellschaft und Politik. Im Haus der Wannseekonferenz, im Jüdischen Museum in Berlin oder bei einer Führung durch Neukölln, immer unter der Leitung des kompetenten und hochmotivierten Teams, wird einem vieles klar und viele Zusammenhänge bewusst. Das alles macht sehr viel Spaß und ist ergiebiger als viele Wochen Schulunterricht. Aber irgendwann ist dann auch mal Schluss mit Theorie.
***
Der letzte Tag. Die Freiwilligen sollen einen Brief an sich selbst schreiben Der wird dann aufbewahrt und ihnen in einem Jahr, nach ihrem Freiwilligendienst, wiedergegeben. Was schreibt man seinem zukünftigen Ich? Woher soll man wissen, worüber man sich bei der Heimkehr Gedanken machen wird, wenn man noch nicht mal unterwegs ist? Wie kann man vorausahnen, unter welchen Vorzeichen man das Resümee eines ganzen Jahres ziehen wird? Manche Fragen bleiben auch noch ohne Antwort. Zum Glück. "Leaving Hirschluch on a Jetplane" singen die Teamer zum Abschied. Ein Schnellzug tuts auch.

*Äußerungen sinngemäß wiedergegeben

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Lieber Herr Prof. Ehrle,...
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evamariawalther2 - 18. Sep, 13:51
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EvaMariaWalther - 10. Jun, 18:30
Nachtrag: Ganze 1 1/2...
Nachtrag: Ganze 1 1/2 Wochen hat meine Fahrsperre gedauert....
EvaMariaWalther - 10. Mär, 23:26
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EvaMariaWalther - 10. Mär, 23:21
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