Samstag, 7. Mai 2011

Jüdische Tradition kennen lernen und erhalten - Brigade in Lostice

(feat. Teresa Nowak)
Schulklassen durch Gedenkstätten führen, Senioren zu Hause besuchen, in einer sozialen oder kulturellen Einrichtung zur Hand gehen: so sieht Freiwilligenarbeit für uns ASF-Freiwillige normalerweise aus. Wir arbeiten allein und eigenständig in unseren Projekten vor Ort und besuchen uns gegenseitig an den Wochenenden. Das ist auch gut so, denn nur so waren wir in den letzten Monaten gezwungen, uns in unsere neue Umfelder zu integrieren, Tschechisch zu lernen, unsere KollegInnen kennenzulernen und eigene Ideen und Projekte zu entwickeln. Manchmal macht es aber viel mehr Spaß, gemeinsam mit Gleichgesinnten anzupacken und zusammen etwas auf die Beine zu stellen. Daher leisteten wir Tschechien-Freiwillige, wie bereits unsere VorgängerInnen, einen Arbeitseinsatz auf einem jüdischen Friedhof. Wir acht plus unsere Länderbeauftragte Staňa Šimuniová wählten ein Wochenende im April aus, buchten eine Unterkunft, packten alte Kleidung ein und machten uns auf den Weg.

Bevor wir uns so richtig in die Arbeit stürzten, stand aber noch eine interessante Lehrstunde in Sachen jüdischer Religion und Tradition auf dem Programm. Herr Papousek, seines Zeichens Kantor der jüdischen Gemeinde in Olomouc, hieß uns sehr nett willkommen und informierte uns über die Geschichte und Gegenwart seiner Gemeinde ebenso wie über Gebetsrituale, Feiertagsbräuche und kulinarische Besonderheiten. So lernten wir am praktischen Beispiel, wie man Challa, das typische jüdische Sabbatbrot, zubereitet. Ausgestattet mit zwei Kisten ebendieses Brotes und zwei Flaschen koscheren Weins machen wir uns endlich auf den Weg zum Ort unseres Arbeitseinsatzes, nach Loštice.

In Loštice, einer gemütlichen Kleinstadt im Herzen Mährens, gibt es im Gegensatz zu Olomouc keine jüdische Gemeinde mehr. Das war nicht immer so: Jahrhundertelang existierten Juden und Christen in geradezu vorbildlicher Weise neben- und miteinander. Christliche und jüdische Schüler besuchten die gleiche Schule, und auch das Kulturprogramm wurde gemeinsam bestritten, zum Beispiel in einer Amateurtheatergruppe. Mit der Naziokkupation und dem Holocaust nahm diese friedliche Nachbarschaft ein jähes Ende. Heute zeugen vom jüdischen Leben in Loštice nur die Synagoge, die inzwischen frisch renoviert als Museum, pädagogisches Zentrum und Ort des Gedenkens dient.
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Und der jüdische Friedhof, auf dem fast 400 Jahre lang die verstorbenen Mitglieder der jüdischen Gemeinde beigesetzt wurden. Unter ihnen auch Fanny Neuda, Verfasserin des ersten jüdischen Gebetsbuches für Frauen. Die Angehörigen der hier Bestatteten sind zum größten Teil in den Konzentrationslagern ums Leben gekommen oder wohnen im weit entfernten Ausland. So ist es inzwischen zur Tradition geworden, dass sich ASF-Freiwillige aus Deutschland, deren Vorfahren schließlich Schuld an diesem Umstand tragen, sich einmal im Jahr um die Erhaltung und Pflege des Geländes kümmern. So auch wir.
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Es gab an diesem Wochenende für uns Freiwillige auf dem Friedhof genug zu tun: Reisig musste aufgesammelt und verbrannt, Hecken zurückgeschnitten, überwucherte Grabsteine wieder freigelegt werden. Im milden Frühlingswetter kamen wir ganz schön ins Schwitzen und freuten uns abends umso mehr auf die deftige Mahlzeit, das kühle Bier und das weiche Bett im Hotel. Unser Ansprechpartner vor Ort, Herr Štípl, sorgte dafür, dass alles reibungslos funktionierte, versorgte uns mit dem nötigen Arbeitsmaterial und darüber hinaus mit erstaunlichen Informationen zum Thema „Judentum und Tod“: Wer hätte gedacht, dass das Reinigen und Bekleiden von Toten als verdienstvolle und angesehene Tätigkeit gilt? Dass auf jüdischen Grabsteinen kunstvoll möglichst viele Informationen zum Lebenslauf und Charakter des Verstorbenen untergebracht werden? Oder dass der Sohn des Verstorbenen nach dem Tod des Vaters ein Jahr lang regelmäßig ein bestimmtes Gebet spricht? So lange dauert die Gerichtsverhandlung im Jenseits, die über den Verbleib der Seele entscheiden soll. Als letztes (entscheidendes?) Argument kurz vor dem Urteilsspruch soll der gottesfürchtige Sohn ins Feld geführt werden können, dessen Erziehung dem Vater offensichtlich gelungen ist.
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Die Frucht unserer Arbeit konnte sich nach zwei Tagen durchaus sehen lassen: Der jüdische Friedhof erstrahlte in neuem Glanz. Wir nahmen Abschied von Loštice und seinen Bewohnern. Auf dem Heimweg bot sich ein Besuch der historischen Altstadt von Olomouc an, bevor alle wieder in ihre Städte und Projekte zurückkehrten.

Urlaub von der Gegenwart – Zu Gast in einem tschechischen Wochenendhaus

Wenn man frühmorgens mit dem Zug aus Brno in Richtung Norden fährt, erst durch die schier endlosen Plattensiedlungen am Stadtrand, dann durch das in Nebel getauchte mährische Hügelland, so kommt man irgendwann nach Letovice. Ich bin die Einzige, die an diesem Frühlingsmorgen an dem kleinen Bahnhof im Nirgendwo aussteigt.
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Gut, dass am Gleis Lukas auf mich wartet. Lukas, 25 Jahre alt, Informatiker, möchte gerne Deutsch lernen und ich Tschechisch. Deshalb treffen wir uns regelmäßig zum sogenannten Lerntandem und bringen uns gegenseitig Schimpfwörter und die Namen der wichtigsten Backwaren bei. Außerdem verbindet uns unsere gemeinsame Leidenschaft für das Geigenspiel. Lukas verwehrt sich gegen meine Feststellung, am Ende der Welt angekommen zu sein und erklärt, dass Letovice schon bessere Tage gesehen hat: Mit seinem Kloster der Barmherzigen Brüder und der Tylex-Textilfabrik galt es lange als wirtschaftliches und kulturelles Zentrum der Region. Doch diese Zeiten sind längst vergangen; übrig geblieben ist ein kleines, verschlafenes, mährisches Dorf. Und mittendrin steht die kleine Chalupa, in die Lukas und seine Frau Hanka mich heute eingeladen haben. Hanka hat Englisch und Spanisch studiert und lernt gerade noch Portugiesisch.

Chalupas sind Wochenendhäuser und in Tschechien sehr beliebt. Nahezu jeder, der etwas auf sich hält, fährt am Freitagabend aus der Großstadt aufs Land. Dieser Umstand lässt sich vielleicht mit einem Blick auf die jüngere tschechische Geschichte erklären. Der Kommunismus stieß in Tschechien von Anfang an nicht auf sonderlich viel Gegenliebe. Man versuchte, sich einen Sozialismus nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten, liberaler und demokratischer. Diese Hoffnung wurde jäh zerstört, als im Frühling 1968 die Panzer des Warschauer Paktes in Prag einrollten und der Reformbewegung ein gewaltsames Ende setzten. Die ganze Nation erhielt einen Schock, von dem sie sich bis heute nicht ganz erholt hat. In der folgenden Zeit entstanden ganze Viertel im immer gleichen grauen, schmucklosen Betondesign. Selbst die Wohnungen glichen sich im Detail. Raum zur freien Entfaltung war im System nicht vorgesehen.
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Die Wochenendhäuser hingegen gaben dem Wunsch nach einem besseren Leben Ausdruck, abseits der urbanen Monotonie. Nach 1990 hat sich daran nicht allzu viel geändert: Die Betonburgen werden als Wohnraum gebraucht. Sie wurden zwar bunt angestrichen, werden aber immer noch als das alltägliche Übel angesehen, wohingegen in der Chalupa das wochenendliche Vergnügen wartet. Hier kann man seiner Individualität Ausdruck verleihen, basteln, werkeln und gärtnern, ganz nach Belieben. Auch Lukas und Hanka fahren jede Woche hierher und richten das alte, einstöckige Häuschen schrittweise wieder her.

Wie so viele hat auch Lukas seine Chalupa von Vorfahren geerbt, die auf dem Land wohnten. Wenn man über die Schwelle tritt, fühlt man sich sogleich, als wäre man mit der Zeitmaschine geradewegs in ein anderes Jahrhundert gereist. Alles ist voll von Erinnerungsstücken an die mehreren Generationen aufrechter Menschen, die in diesem Haus gelebt haben. In einer Ecke steht eine alte Standuhr mit Pendel, gegenüber, auf dem massiven Eichenschrank mit figürlichem Schnitzwerk auf den Türen, eine Schreibmaschine der ersten Generation. In der Glasvitrine in der Küche ist biedermeierliches Blümchenporzellan ebenso zu finden wie ein Blechservice inklusive Teekanne. Ein besonders kurioses Objekt steht neben der Tür zum Esszimmer: Ein Frisiertisch aus dem vorvergangenen Jahrhundert. Lukas erzählt, dass sein Großvater, seines Zeichens Friseur und Barbier, hier noch bis in die siebziger Jahre seine Kunden bedient hat. Dann stellte man ihn vor die Wahl, seinen Laden entweder verstaatlichen zu lassen oder zu schließen. Lukas‘ Großvater entschied sich für Letzteres und reihte sich somit ein in die Liste der unzähligen Menschen, die nicht mit dem System kooperierten oder einfach zu laut ihre Meinung sagten und infolgedessen mit gravierenden Nachteilen, Bespitzelung oder sogar Gefängnisstrafen rechnen mussten.

Zum Mittagessen gibt es „Spanische Vögel“, eine urtypische tschechische Spezialität, die hauptsächlich aus Rindfleisch und Wurst besteht und für die Hanka sicherlich stundenlang in der einfach ausgestatteten Küche stehen musste. Es schmeckt herrlich, vor allem kombiniert mit einem Gläschen mährischen Wein, den Hankas Onkel selbst keltert. Beim Essen machen wir es uns auf einer massiven Eichenbank gemütlich. Auch dieses Möbelstück hat Geschichte: Es ist das Geschenk des Klosters an Lukas´ Vater, einen aktiven Messdiener und Kirchenmusiker, der außerdem bei allen notwendigen Reparaturen im Klostergebäude Hand anlegte. Sein Engagement kostete ihn das staatliche Stipendium. Aus Dankbarkeit für seine Hilfe übernahm das Kloster die Kosten für seine Ausbildung, sonst wäre eine akademische Laufbahn für Lukas´ Vater undenkbar gewesen. Auch die Kirchen standen auf der Abschussliste der kommunistischen Regierung. Sie wurde gezielt blockiert und ausgebremst. Das führte nach und nach zu einer völligen Austrocknung der Spiritualität in Böhmen und Mähren, die bis heute anhält: Tschechien ist momentan eines der atheistischsten Länder Europas. Dabei war das tschechische Selbstverständnis jahrhundertelang untrennbar mit dem Katholizismus verbunden. Die zahlreichen Heiligenbildchen und Wallfahrtssouvenirs, die in der Chalupa von Lukas und Hanka verteilt sind, tragen Zeugnis davon.
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In solch einer Umgebung lässt es sich ungestört der Nostalgie frönen: Den Nachmittag verbringen wir mit traditionellen tschechischen Liedern, mit Singen, Spielen und noch etwas mehr Wein. Beim folgenden Spaziergang bin ich schon recht gut gelaunt. Danach geht es weiter mit Slibowitz, dem obligatorischen Pivo und natürlich Pomazánka, einer tschechischen Spezialität, für die der Kühlschrank geplündert, alles vermischt und dann aufs Brot gestrichen wird. Das Resultat ist meist erstaunlich schmackhaft. Kein Zweifel, die kulturelle und kulinarische Tradition des Landes ist mir mittlerweile sehr ans Herz gewachsen.

Deshalb kann ich Lukas und Hanka auch gut versehen: Beide sind ganz und gar Kinder ihrer Zeit, sprechen Fremdsprachen, haben Auslandserfahrungen und immer einen Labtop dabei. Und dennoch genießen sie es ganz offensichtlich, Woche für Woche in die Vergangenheit einzutauchen, in ein anderes Kapitel der tschechischen Geschichte, als von Faschisten und Kommunisten noch niemand etwas ahnte. Die Vergangenheit ist immer präsent, sie ist ein Teil des täglichen Lebens. Zwar ist es eine etwas verzerrte Geschichtswahrnehmung, die bestimmte Aspekte bewusst ausblendet. Doch als die Stimmung immer besser wird und die Lieder immer wilder, wissen alle, dass das nicht die schlechteste Art ist, sein kulturelles Erbe zu pflegen. =)

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Lieber Herr Prof. Ehrle,...
Lieber Herr Prof. Ehrle, vielen Dank für ihr fortgesetztes...
evamariawalther2 - 18. Sep, 13:51
https://www.asf-ev.de/de/e inblicke/lebenszeichen-vom -freiwilligendienst/eva-ma ria-walther.html
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EvaMariaWalther - 10. Jun, 18:30
Nachtrag: Ganze 1 1/2...
Nachtrag: Ganze 1 1/2 Wochen hat meine Fahrsperre gedauert....
EvaMariaWalther - 10. Mär, 23:26
https://www.asf-ev.de/de/e inblicke/lebenszeichen/eva -maria-walther.html
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EvaMariaWalther - 10. Mär, 23:21
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