Freizeit

Sonntag, 2. Oktober 2011

Urlaub in Rumänien - Szenen aus einem faszinierenden Land

Rumänien und die Taxifahrer. Es ist ja nicht so, als wären wir nicht gewarnt gewesen. Seitenlang wird das Thema in allen Reiseführern behandelt und ausdrücklich zu besonderer Vorsicht gemahnt. Allzu leicht kann man als Tourist in einem fremden Land übers Ohr gehauen werden, und dann bezahlt man schon mal ein Vielfaches des eigentlichen Fahrpreises! Wagemut oder Naivität – kaum angekommen am Bahnhof von Timisoara, steuern wir auch schon zielstrebig den Taxistand an. Wir sind ganz stolz, dass wir dem Fahrer irgendwie kommunizieren können, wohin die Fahrt gehen soll, und los geht’s über die Straßen und Plätze der westrumänischen Großstadt. Bis der Wagen plötzlich hält. Sind wir schon da? Nein. Der Fahrer steigt aus und versucht uns wild gestikulierend zu erklären, dass die Straßennummer, die wir ihm auf einem kleinen Zettel unter die Nase gehalten haben, nicht existiert. Er schimpft, er zuckt die Achseln, er rauft sich die Haare – das Taximeter läuft weiter. Kein Mensch weiß, was passiert wäre, wäre nicht in just diesem Moment Radu aufgetaucht, unser Couchsurfinghost. Er erteilt dem Taxifahrer einen Anschiss, bezahlt die Fahrt und lotst uns zur richtigen Hausnummer, die eigentlich direkt an der Straße liegt. Zuerst zeigt der 29-jährige Programmierer uns seine Wohnung. Seine herzliche Gastfreundlichkeit lassen uns den etwas herben Empfang in Rumänien schnell vergessen: Wir dürfen das gesamte Wohnzimmer besetzen (kein Wunder, wir sind ja auch zu fünft) und sogar Stadtpläne hat K. für uns ausgeruckt. Dann muss er schnell wieder zur Arbeit, die er extra geschwänzt hat, nur um uns in Empfang zu nehmen. Wir machen uns also auf in Richtung Stadt. Timosoara gefällt: Rings um die Altstadt liegt ein Fluss und ein großzügiger Park. Im Stadtzentrum spielt sich das Leben hauptsächlich auf den drei großen Plätzen ab. Es gibt prunkvolle Barockhäuser à la Habsburgermonarchie, eine Synagoge und natürlich auch schon den christlich-orthodoxen Stil. Meine erste orthodoxe Kirche lässt mich beim Betreten laut Luft holen: So eindrucksvoll wirkt der dunkle, ruhige Kircheninnenraum mit seinen goldstahlenden Ikonen auf mich. Ein roter Teppich führt zu einem kleinen Marienbildnis, das permanent von Gläubigen geküsst wird. Die Menschen bekreuzigen sich auch auf der Straße, wenn sie an dem Gotteshaus auch nur vorbei gehen. Im gegenüber gelegenen McDonalds lernen wir gleich noch eine andere Seite Rumäniens kennen: Ein kleiner Romajunge (höchstens fünf Jahre) bettelt um Geld oder Essen.

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Abends treffen wir uns mit Radu in einem Restaurant, das direkt am Fluss gelegen ist. Wir lernen das vielleicht beste rumänische Bier, Timisoareana, sowie Radus Freunde kennen. Und Radu hat viele Freunde. Irgendwie fast alle, die im Laufe des Abends in den Biergarten treten, werden sofort an unseren Tisch gewinkt. Bald sind wir von einem Dutzend rumänischer Informatiker umringt. Unser Reiseplan weckt Erstaunen: „Fünf Mädchen reisen ganz allein quer durch Rumänien? Ob wir keine Angst hätten? Nein, sollten wir? Soweit fühlen wir uns wohl in Rumänien. Sehr sogar.

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Wir schlendern im schönsten August-Sonnenschein durch Sibiu, ehemalige Hauptstadt der in Rumänien lebenden Deutschen, der sogenannten Sachsen. Die Stadt ist ein Schmuckkästchen-herrschaftlich-barocke Stadthäuser mischen sich mit einer charmanten Heruntergekommenheit.

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In der Altstadt findet just an diesem Tag ein Folklorefestival statt. Die Straßen sind vollgestopft von Mädchen in rauschenden Tanzröcken, Jungs mit kecken Hüten auf dem Kopf, Musikanten mit Blechblasinstrumenten, Geigen, Akkordeons und Instrumenten, die ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen habe. Die Gruppen kommen aus unterschiedlichen Teilen Rumäniens und aus der ganzen Welt. Fasziniert betrachte ich die jungen, aufgeregt plappernden Traditionsliebhaber: Keine zwei Trachten gleichen einander, aber alle verstehen es, das physische Kapital ihres Trägers gekonnt in Szene zu setzen. So anders als der Diskobesuch war das Dorffest damals auch nicht. Man amüsiert sich und sucht Anschluss, wobei das Äußere eindeutige Signale versendet.

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Schließlich setzt sich die Prozession in Bewegung, die Mitwirkenden bewegen sich tanzend und musizierend zum Marktplatz. Dort ist eine große Bühne aufgebaut, außerdem Scheinwerfer, Kabel, Kameras, Übertragungswagen- Wir sind Zeugen eines kulturellen Höhepunktes. Der Platz wimmelt von Menschen aller Altersgruppen. Die schlanke und sympathische Brünette, die durch den Abend führt, begrüßt alle Gäste wie alte Bekannte. Die langjährige Leiterin einer der auftretenden Tanzkreise feiert just heute Abend ihren achtzigsten Geburtstag. Es wird gesungen und eine feuerwerksgeschmückte Torte überreicht, woraufhin die Jubilantin, den Tränen nahe, eine bewegende Ansprache hält. Dann fasst sie ihr Tanzpartner bei der Hand, und die Tanzoma verlässt, sich beständig um die eigene Achse drehend, die Bühne. Der Rock wippt lustig mit.

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Die Bremsen quietschen, und langsam und ruckelnd kommt der alte Zug zum stehen. Jetzt gilt es nur noch, mit den schweren Reiserucksäcken den ca. einen Meter bemessenden Höhenunterschied zum Bahnsteig zu überwinden, und schon sind wir da: In Copsa Mica, laut Lonely Planet der hässlichsten Stadt Rumäniens. Diesem zynischen und gemeinen Urteil kann man bei näherem Hinsehen --- nur beipflichten.

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Warum wollen wir dennoch an diesen unheimlichen Ort??? Wollen wir ja gar nicht. Unser eigentliches Ziel ist ein kleines Dorf in der Nähe, in dem der Vater von meiner Mitreisenden Juli geboren wurde. Zunächst steht es schlecht um unser Vorhaben: Der Ort ist weder mit dem Zug noch mit dem Bus zu erreichen. Zum Glück hilft die Frau am Ticketschalter weiter: Sie bestellt uns ein Taxi. Wir warten auf dem staubigen Bahnhofsvorplatz mitten den streunenden Hunden, Annika: Vielleicht hätten wir sagen sollen, dass wir zu fünft sind? Da kommt auch schon unser Taxi.

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Der Fahrer steigt aus. Er sieht die fünf Mädchen. Er sieht die fünf schweren Reiserucksäcke. Er sieht seinen Wagen. Es ist ein Opel Corsa. Er legt die Stirn in Falten. Er kratzt sich am Kopf. Dann muss er plötzlich lachen: „Okay, we can try!“ Fünf Minuten vorsichtigen Herumhantierens und etliche Lachtränen später haben tatsächlich alle Passagiere und Gepäckstücke Platz gefunden.

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So kurven wir denn durch Siebenbürgen und sind wenige Minuten später in Valea Viilor, oder zu Deutsch: Wurmloch. Ob Einstein sich das wohl so vorgestellt hat? Eingebettet in die malerischste Landschaft, besteht das Dorf hauptsächlich aus einer großen Straße, auf der ab und zu der der ein oder andere Pferdewagen fährt. Den Mittelpunkt bildet eine große Kirchenburg, eine geniale Erfindung der Siebenbürgen: In einem solchen Gebäude kann man nicht nur Gottesdienst feiern, sondern auch im Angriffsfalle das ganze Dorf verschanzen.

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Hier haben nun also Julis Großeltern nun also einen großen Teil ihres Lebens verbracht. Ein Jahr nach der Geburt von Julis Vater wanderten sie nach Deutschland aus. Die alte Frau, die Besucher in die Kirchenburg einlässt, kennt sie noch persönlich. Sie weiß auch, wo sie wohnten, wer daneben wohnte, wer mit wem verwandt oder verschwägert war und wohin sie später alle auswanderten. Heute zählt die deutsche protestantische Gemeinde im Ort noch genau fünf Mitglieder, der nächste Gottesdienst ist für Weihnachten anberaumt. Seit die Kirchenburg zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört, hat die Frau ein schweres Leben. Stundenlang beaufsichtigt sie täglich die Kirche und das kleine Museum, und wenn nach Ende der Öffnungszeiten weitgereiste Touristen vor verschlossenen Türen stehen, finden sie dort ihre Nummer. Dann schwingt sie sich aufs Rad und schließt noch mal auf. Wenigstens trägt sie dadurch dazu bei, dass ihr kulturelles Erbe nicht verloren geht. Während unser Privatshuttle uns bald aus der dörflichen Idylle des Wurmlochs wieder zu den Fossilien der Industrialisierung in Copsa Mica katapultiert.
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„Geht lieber nicht nach Bukarest. Da gibt es doch nichts zu sehen. Nur alle, die es in Rumänien nirgendwo zu etwas gebracht haben, tummeln sich irgendwann in der Hauptstadt.“ So hatten uns Radus Freunde noch wenige Tage zuvor gewarnt. Dennoch haben wir Bukarest nicht von unserem Reiseplan gestrichen – zum einen, weil es hier einen Flughafen gibt und zwei Mitreisende sich leider schon verabschieden müssen. Außerdem ist die Hauptstadt eines Landes fast immer interessant. Bukarest fasziniert durch seine Hässlichkeit. Sein Verfall ist nicht charmant wie an so vielen anderen Ecken Rumäniens, sondern wirklich abstoßend. Von den ohnehin schon nicht gerade pittoresken Plattenbauten bröckelt der Putz, aus den Hinterhöfen stinkt es nach den streunenden Hunden, die dort nach Essen suchen, Plätze sind von Tauben- und Parks von Entendreck übersät. Es gibt Strommasten, die sich vor Kabeln biegen, deren Enden völlig ungesichert in die Luft ragen.

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Es gibt Straßenschluchten, so tief, dass einem am Grunde das Atmen schwer fällt. Es gibt Straßenkreuzungen, so groß wie viele Fußballfelder, was die Orientierung als Fußgänger erheblich erschwert. Nichts passt zusammen: Hier versucht sich Bukarest groß und weltgewand, mit Hochglanzläden und Coffeeshops und großformatigen Werbetafeln an den Hauswänden, in einer Seitenstraße versteckt sich hinter Geröll und Bauschutt eine uralte orthodoxe Kirche. In der historischen Altstadt ist alles Authentische von einer dicken Schicht Touristenkitsch und überteuerten Ausgehlokalen überdeckt. Die Taxifahrer sind hier aufdringlicher als sonst wo, und sie verlangen horrende Preise für die kürzesten Wege. Wer sich nicht auskennt, ist aufgeschmissen. Aber am beängstigendsten ist vielleicht der Teil der Stadt, den der egomanische kommunistische Führer des Landes, Ceausescu, ersonnen hat. Ganze Viertel, darunter auch das jüdische, wurden dem Erdboden gleichgemacht, um dem Diktator eine Wohnstadt nach seinem Geschmack zu ermöglichen. Mit 5100 Zimmern und einer eigens errichteten Allee mitsamt angrenzenden Prachtbauten, die auf das monströse Gebilde hinführen.

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Als Stein gewordener Größenwahnsinn steht der Palast auch heute noch mitten in der Stadt und löst bei der Bevölkerung die unterschiedlichsten Gefühle aus, wird, je nach Standpunkt des Betrachters als ungeliebte Erinnerung an die Jahre der Unfreiheit oder als Beweis der Leistungsfähigkeit des Sozialismus angesehen. Schön ist er auf jeden Fall nicht. Aber es ist ein offenes Geheimnis, dass auch extreme Hässlichkeit als anziehend empfunden werden kann. In Bukarest ist dies der Fall. Die Stadt wirkt in all ihrer Schäbigkeit und mit ihren Ungereimtheiten fast surreal. Das stimuliert die Fantasie beim schlendern durch Straßen und über Plätze. Leicht lässt sich ausmalen, jede Ecke, jedes halbzerfallene Gebäude hätte eine Geschichte, eine spannende, voller Absurditäten und unvorhergesehener Wendungen. Bukarest ist ein Stadt zum fabulieren. Zum Wohnen eher weniger.

Und wieder die Taxifahrer. Kaum treten wir aus dem Bahnhof in Constanta, schon heften sie sich uns an die Fersen. Sie wollen partout nicht locker lassen. Wir aber haben aus bisherigen Erfahrungen gelernt und preschen direkt auf ein Maxitaxi zu. Maxitaxis sind Minibusse, die nach Bedarf an bestimmten Haltestellen stoppen, die Nummer 23 fährt zu unserem Campingplatz. Steht zumindest im Reiseführer. „Mamaia?“, fragt der Fahrer nur durch die geöffnete Fahrzeugtür, wir nicken, ja, in diesen Urlaubsvorort von Constanta wollen wir, und schwupp! Schon sind wir drin. Erst als wir sitzen, kommt uns die Idee, man hätte ja mal fragen können, ob der auch tatsächlich an unserem Campingplatz hält… Jetzt ist es zu spät. Was aber noch weitaus beunruhigender ist, ist die Anzahl an Menschen, die jetzt noch zusteigen. An jeder Station werden es mehr, bald schon ist jede Bewegung unmöglich geworden. Selbst wenn wir im richtigen Fahrzeug sitzen würden, hätten also keinerlei Chance, auch auszusteigen. Abgesehen davon, dass wir die richtige Haltestelle gar nicht erkennen würden. Das Maxitaxi fährt und fährt. Irgendwann werden wir unruhig und fragen unsere Mitreisenden, ob wir auf dem richtigen Weg sind. Da kommt Bewegung in die zusammengepferchte Menschenmasse. Englisch scheint niemand zu sprechen und den Campingplatz scheint auch niemand zu kennen. Aber der Zettel mit der Adresse wird herumgereicht und interessiert gelesen, es wird wild diskutiert und bald ist der ganze Bus in die Debatte verwickelt. Wir fahren an einem Campingplatz vorbei, „der könnte es gewesen sein…“ sage ich. Schon zu spät. Der war es auch wirklich, bestätigt uns später der Busfahrer. Der Name, der im Reiseführer angegeben war, steht nur ganz klein auf einem Schild und die Haltestelle heißt anders. „Macht nichts“, sagt zum Glück der sympathische Busfahrer, auf dem Rückweg nach Constanta kommen wir wieder am selben Punkt vorbei. Jetzt nimmt die Zahl der Fahrgäste auf einmal sehr schnell ab. Die wenigen, die noch zusteigen, beginnen einen Plausch mit dem Fahrer und bekommen gleich die sensationelle Story von den drei deutschen Mädchen zu hören, die es schaffen, sich zwischen Constanta und Mamaia zu verfahren, und beäugen uns neugierig. Wir verstehen immer nur „germana“ und den Namen des Campingplatzes. Eigentlich ganz witzig, Tagesgespräch zu sein. Die Sonne geht inzwischen schon unter. Wir parken an der Endhaltestelle, der Fahrer macht eine Raucherpause. Seine Tochter oder Freundin oder auch eine völlig fremde Person ist auch noch da und unterhält sich ein wenig mit uns. Etwa eine Stunde später und in stockfinsterer Nacht sind wir endlich an unserem Ziel angelangt. Das Meeresrauschen am nächtlichen Strand entschädigt allerdings für einiges.

Vama Vecche ist der optimale Zielpunkt einer anstrengenden Reise. Er ist vielleicht überhaupt der beste Platz zum Entspannen, den der kleine Küstenort gilt seit langem als gechilltester in ganz Rumänien. Früher tummelten sich hier Hippies und Nudisten, und noch heute weht ein alternativer Wind durch die drei Straßen des kleinen Urlaubsdorfes. In der Einkaufsstraße kann man sich Henna-Tatoos malen oder Haarstähnen mit Wollfaden umwickeln lassen, zu kaufen gibt es Stoffsäcke, türkische Hosen und fair gehandelte Klamotten aus aller Welt. Über alledem schwebt der leichte Duft von Joints, der sich nie so ganz verliert. Kaum sind wir angekommen, da kommt schon ein leicht ergrauter Mann auf uns zu und bietet uns einen Campingplatz für 20 Lei (5 Euro) pro Nacht an. Wir folgen ihm etwa 200 Meter die Straße entlang und biegen nach rechts in den „Campingplatz“ ein, der sich als ausgedehnter Garten hinter seinem Wohnhaus entpuppt. Rechts wachsen Rosen, Apfelbäume und Weinstöcke, rechts ist eine Rasenfläche, auf der das junge Völkchen seine Zelte aufschlagen kann.

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Eine Dusche und ein Plumpsklo gibt es auch, alles sehr improvisiert, aber das Wasser ist solargeheizt! Alles in allem eine für diesen Preis sehr stilechte Unterkunft. Der Strand ist auch nur fünf Minuten Fußmarsch entfernt. Bei einem Bummel am Sandstrand entlang begegnet man auch einer ganzen Menge sehr gechillter Menschen, die tatsächlich direkt am Meer zelten, keine zehn Meter von der Brandung entfernt. Bei stürmischem Wetter eine recht nasse Angelegenheit… Wir vertreiben uns mit lesen und Karten spielen die Zeit. Am nächsten Tag scheint wieder die Sonne. Da ist der Strand ganz von Handtüchern uns sonnengebräunten Leibern übersät.

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Wem das zu ungechillt ist, der kann ins ebenfalls nur einen Fußmarsch weit entfernte Bulgarien ausweichen, wo es kilometerlange unbewachte Naturstrände gibt.

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Abends wird gechillt gefeiert: Dann reiht sich am Strand eine Bar an die andere, wobei die meisten gleichzeitig als Open-Air-Klub fungieren. Mindestens in jedem zweiten kommt Livemusik, aus den restlichen tönt nonstop gute Musik: Succer Love, Californication, Song Two. Man kann sich ruhig an einer Bar sein obligatorisches Timisoareana kaufen, dort ein wenig bleiben und, wenn einem danach ist, samt Bier ein Haus weiterziehen, hier ein wenig tanzen, dort noch ein Bier, hier auf dem Spielplatz ein wenig schaukeln und wippen.

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Und den Gedanken am Besten gaaanz weit wegschieben, das der schöne Urlaub schon bald vorbei ist und man sich von Rumänien verabschieden muss.

Dienstag, 12. Juli 2011

Liebes Reisetagebuch,

Donnerstag

heute sind wir zu unserer kleinen Polenreise aufgebrochen. Der erste Weg führte uns – wie sollte es auch anders sein – nach Wien. Was, Wien liegt gar nicht auf dem Weg nach Polen? Oh. Naja, Erdkunde war noch nie so meine Stärke. Vermeiden lässt sich der kleine Umweg aber sowieso nicht, den in der Arena Wien singen Wir sind Helden Open Air!

Die quietschgelben Busse vom Student Agency bringen uns schnell in die Österreichische Hauptstadt. Zur Reiseplanung haben Teresa und ich uns erstmals Couchsurfing bedient, jenes Onlineportals, bei dem Globetrotter mit schmalem Budget zu schwärmen anfangen und Mütter Alpträume kriegen. Dort lernten wir unsere Couchsurfingastgeberin Julia kennen, eine lebensfrohe Heidelbergerin. Vorsichtig lotst sie uns mit unserem Gepäck durch ihre WG, in der halbfertige Zeichnungen und ein lebensgroßes Gipsmodell am Boden liegen. Ich glaube, durch Couchsurfing kann man wirklich interessante Menschen kennen lernen. Dann brechen wir auf zum Kaffee trinken mit Elsa, meiner irischen Austauschpartnerin, in der alten Universität. Elsa ist jetzt auch schon fast ein Jahr mit Erasmus in Wien. Gespräche über Abschied nehmen und Neubeginne. Dann gibt’s noch ein sehr leckeres Thaicurry im Welt-Café, und dann legen die Helden auch schon bald los. Die Stimmung in der Arena übersteigt bald den Siedepunkt, während sich am Himmel die dunkelgrauen Wolken auftürmen.
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Kaum war die dritte Zugabe verklungen, da fing es auch schon an zu regnen. Schnell zurück zur Wohnung! Leider stellt sich bald heraus, dass die Telefonnummer, die Julia uns per Mail mitgeteilt hat, nicht stimmt oder irgendeinen Fehler enthält. Jedenfalls ist sie nicht zu erreichen. Klingeln an der Wohnungstür bleibt ebenso erfolglos. Anscheinend istkeiner ihrer drei Mitbewohner zu Hause. Da sitzen wir dann also, im Dunkeln, im Regen, und ich denke ernsthaft schon an ein ganz besonders geschicktes Täuschungsmanöver, um an unser Gepäck zu kommen. Mir kommen schon langsam Zweifel an der ach so toleranten, solidarischen Couchsurfing-Idee. Irgendwann lässt uns irgendein Bewohner ins Haus, und so warten wir im Treppenhaus vor der Wohnungstür weiter. Da plötzlich: Die Türglocke schellt im Inneren der Wohnung. Teresa und ich wechseln erstaunte Blicke; stürmen nach unten und öffnen einer völlig aufgelösten Julia die Tür. Sie hat ihre Schüssel vergessen, von ihren Mitbewohnern ist niemand zu erreichen. Auch wenn sich Julia sich jetzt wortreich für ihr Missgeschick entschuldigt: Sie hat gerade meinen Glauben an das Couchsurfing-Projekt und die Menschheit als solche wiederhergestellt. Kaum eine Stunde später kam dann ihr Mitbewohner nach Hause und öffnete uns die Tür zur Wohnung, in der uns ein himmlisch weiches Bett sehnlich erwartete.

Freitag

Der Abschied von dem Bett ist mir heute Morgen wirklich sehr schwer gefallen. Dabei war es eine sehr flüchtige Bekanntschaft: Nur etwa drei Stunden haben wir miteinander verbracht. Aber es lässt sich nicht ändern: Marco will um 6 Uhr aufbrechen. Auch Marco kennen wir aus dem Internet, genauer gesagt von der Seite mitfahrgelegenheit.at. Er ist 24 Jahre alt, studiert irgendwas mit Umwelt und hat beim Erasmussemester in Norwegen seine Freundin aus Estland kennen gelernt, die er jetzt besuchen fährt. Eigentlich eine sehr gute und ökologisch sinnvolle Idee, sich über das Internet Gesprächspartner und Mitbezahler fürs Benzin zu suchen. Außer uns ist noch Gregor mit von der Partie, der nach Hause nach Estland fährt. Gregor studiert in Wien Chemie, hat Rasterlocken und sein Lieblingsschimpfwort ist „unchillig“. Die elf Stunden Fahrt verbringe ich hauptsächlich damit, auf der Rückbank herumzudösen und den Gesprächen über die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme Estlands zu lauschen oder darüber, in welcher Europäischen Großstadt es die besten Second-hand-Shops und die entspanntesten Grasverkäufer gibt.

Bei der ersten polnischen Raststätte die Überraschung: Wir verstehen die polnische Speisekarte, die Bedienung die auf Tschechisch vorgetragene Bestellung. Erst, als einer der Jungs sich mit „spasiba“ bedanken will, hört der Spaß auf. Da will sie doch lieber „Danke“ hören. Beim IKEA kurz vor Warschau ist unsere gemeinsame Fahrt dann zu enden. Marco will sich verständlicherweise den Feierabend-Großstadtverkehr nicht antun. So müssen wir alleine unseren Weg in die Innenstadt finden. Als wir endlich tatsächlich vor dem Hauptbahnhof stehen, fühlen wir uns ganz schön cool und erwachsen.

Dort treffen wir dann auch unsere nächste CS-Gastgeberin, Joanna. Sie studiert Architektur und arbeitet nebenbei sechs Tage die Woche in einem Coffeeshop. Das ist bei ihrem bescheidenen Gehalt auch nötig, denn Joanna isst und kocht gerne gut. Davon erhalten wir noch am selben Tag eine Kostprobe. Die Pfannkuchen mit Spinat sind ein Gedicht. Später kommt noch ihr Freund Kamil vorbei, und gemeinsam lästern sie über Polen,Warschau und seine sich über Jahre hinziehende Bemühungen, eine zweite U-Bahnlinie zu errichten. Es wird viel gebaut in ganz Polen, schließlich hat das Land gerade gestern die EU-Ratspräsidentschaft übernommen. Noch dazu steht nächstes Jahr die Fußball-Europameisterschaft ins Haus. Ich wollte eigentlich nur fragen, welche Orte man in Warschau gesehen haben muss, um ein paar Tipps von Ortskundigen einzuholen, da haben wir auch schon einen Fremdenführer für morgen: Kamil. Mal gespannt, was uns in Warschau erwartet.

Samstag

Am Morgen regnet es immer noch. Wir sehen wir uns erst mal die Altstadt an. Ganz nett, aber sehr touristisch und außerdem kein bisschen alt. Fast alle Gebäude sind rekonstruiert.
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Um 12 wartet Kamil auf dem Marktplatz auf uns, leicht zu erkennen an seiner Bob Marley-Frisur und dem Rad, mit dem er immer unterwegs, auch wenn das in Warschau mitunter nur unter Gefährdung des eigenen Lebens möglich. Kamils Freund Roberta kommt ganz in Tarnkleidung. In diesem Moment fange ich an, ein bisschen Angst zu haben vor unserem heutigen touristischen Programm.
P1010150Dass die erste „Sehenswürdigkeit“ hinter einem Bretterzaun mit Stacheldraht verborgen ist, ist auch eher untypisch, oder? „So how do you feel about breaking the law in Warsaw?“, fragt Kamil, als wir darunter hindurch geklettert sind. Ich wische mir die Erde von den Fingern, stapfe durchs hüfthohe Gras – Da stockt mir der Atem: Mitten in dieser Wildnis steht ein 20 m hoher, verlassener Gasspeicher aus Ziegelstein. Auf dem halb verfallenen Dach wachsen Bäume, das Innere ist ganz mit Wasser gefüllt. Ein in seiner ganzen Heruntergekommenheit geradezu magischer Ort.
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Nebenan steht noch ein zweiter Speicher, dessen Dach noch nahezu intakt ist. Kamil will da rauf. Die vor sich hin modernde Holztreppe sieht nicht gerade so aus, als würde sie mühelos den TÜV bestsehen. Ob er das schon einmal gemacht hat? „No, but I wanted to check in out.“ ... Achso, nur ein Scherz. Ich versuche krampfhaft, weder nach unten zu sehen, noch daran zu denken, wie meine Mutter auf die Nachricht reagieren würde, dass sich ihre Tochter in einem gesperrten Gasspeicher in Warschau aus 19 m Höhe zu Tode gestürzt hat. Dann sind wir oben. Und genießen einen Ausblick auf Warschau, der den meisten Touristen wohl verwehrt bleiben wird.
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Doch Kamils und Robertos Repertoire an kuriosen Orten ist noch lange nicht erschöpft. Die beiden gehören jeder urbanen Bewegung an, die es sich zum Sport macht, verlassene, verfallene und gesperrte Gebäude ausfindig zu machen und zu erobern. Über jedes zweite Haus wissen sie eine Geschichte zu erzählen, sein es von bestechlichen Wächtern oder aufgebrachten Polizisten.
P1010199Als nächstes lotsen sie uns entlang unbenutzter Bahnschienen durch ein Stück Wildnis mitten in der Metropole. Da bekommt das Wort „Großstadtdschungel“ eine ganz andere Bedeutung.
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P1010212Schließlich klettern wir noch auf eine Zugbrücke über die Weichsel und lassen unsere Blicke am grauen Horizont entlang schweifen, während über uns donnernd die Straßenbahnen hinweg donnern.
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Jetzt verabschieden wir uns von den Jungs und begeben uns in den warschauer Szenestadtteil Praga. Von Studenten und Künstlern bewohnt, ist dieses Viertel ein wahres Kreativbiotop voller alternativer Cafés, Klubs und Designerläden. Steht zumindest im Reiseführer. Nach zweistündiger Suche im ununterbrochenen Nieselregen haben wir tatsächlich auch schon ein Café gefunden . Sogar ein alternatives, allerdings anders als erwartet.
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Joanna ist auf einer Uniexkursion, und so verbringen wir den Abend alleine mit Ginger und Fred. Tagsüber eher scheu, werden die beiden nachts recht aufdringlich und lassen die Gäste kaum in Frieden schlafen. Irgendwann lösen wir das Problem, in dem wir die beiden Kater in Joannas Schlafzimmer einsperren.

Sonntag

„Lublin? Wer will denn da schon hin?“ hatten uns Joanna und Kamil am Vortag noch gefragt. Dass es so wenige sind das der Zug um 11 Uhr einfach mal nicht fährt – damit hätte ich dann doch nicht gerechnet. So sind wir erst um halb vier in der 350 000 Einwohner-Stadt. Dort erwartet uns schon Nina, ihres Zeichens ASF-Freiwillige in der Gedenkstätte Majdanek. In ihrer neuen Heimatstadt Lublin fühlt sich pudelwohl: Groß genug, dass immer etwas los ist, und doch ist hier noch, anders als etwa in Krakau, „das echte Polen“. Was sie damit meinen könnte, erfahren wir eine Stunde später: Da sitzen wir schon einem polnischen Folklorechor wieder und singen polnische, serbische und russische Lieder. (Der größte Unterschied besteht in der Anzahl an sonderbaren Zeichen über den Buchstaben; polnisch führt mit Abstand). Dann zeigt Nina uns und einer weiteren Deutschen, die ab Morgen ein Praktikum an der Gedenkstätte macht, die Altstadt, die, allen Vorurteilen zum Trotz, sehr schön ist.
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Das eigentliche Highlight des Tages sind aber die Pierogi, jene sensationelle polnische Spezialität, die man in Deutschland wohl unter dem Namen „Maultaschen“ verkaufen würde. Eigentlich schmecken sie aber viel besser und sind eine willkommene Abwechslung zur Knoblauch- und fleischüberfrachteten tschechischen Küche. Nina hat in nur zehn Monaten in Polen einen regelrechten Patriotismus entwickelt: „Niemand sagt was gegen mein Polen!“. Das ist wohl leichter gesagt als getan. Die Osteuropäischen Länder sind im internationalen Vergleich einfach nicht so populär. Jeder der Anwesenden kennt die abschätzigen oder mitleidigen Blicke, wenn man erzählt, dass man für längere Zeit nach Polen oder Tschechien geht. Was für schöne, aufregende und lebenswerte Länder das (inzwischen) sind, ist zu vielen selbstgerechten Westeuropäern noch nicht durchgedrungen. Wir machen es zu unserer Agenda, das zu ändern, und stoßen an mit Ingwerbier.

Montag

Die richtigen Leute muss man kennen…. Dann bekommt man auch schon mal eine hochkompetente und kostenlose Führung zum Thema „Juden in Lublin“. Nina, Expertin auf diesem Gebiet, erzählt von dem Zentrum jüdischen Lebens, das Lublin zu sein pflegte. Den Juden ging es gut in der Stadt, sie waren wohlhabend und lebten jahrhundertelang in freundschaftlichem Austausch mit den Christen zusammen. Im Museum in der Altstadt erwacht es auf unzähligen Schwarz-Weiß-Fotographien wieder zum Leben. Das geschäftige Treiben auf den Straßen, die Schuster, Schneider, Gemischtwarenhändler, der Markt, die Toraschule, die Synagogen. Wenn man aus dem Fenster blickt, fällt es einem schwer, sich all das vorzustellen. Da, wo früher das jüdische Viertel und dann das Ghetto war, ist jetzt ein Park und ein Parkplatz.
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Die Nazis haben fast alle Juden aus der Stadt nach Majdanek verschleppt und ihre Häuser dem Erdboden gleichgemacht. Diesem dunklen Kapitel wir in dem Museum mit einem fast vollständig dunklen Raum gedacht. Die Listen der Juden, die in den umliegenden Konzentrationslagern ums Leben kamen, wurden kurz vor Ende des Krieges von den Nazis vernichtet, nur eine Liste von einer Außenstelle des Lagers Majdanek ist übrig geblieben. Diese wird in dem Raum von einer Stimme auf Band verlesen. Fünf Minuten lang höre ich nur Namen, die mit A anfangen, dann ertrage ich es nicht mehr. Eine dicke Haut ist mir auch nach einem Jahr praktisch regelmäßiger Konfrontation mit dem Thema „Holocaust“ noch nicht gewachsen. Das ist vielleicht auch gar nicht möglich. Sogar Nina sagt, dass sie nach einem Jahr ein bisschen Abstand von der Gedenkstätte gut vertragen kann. Das Museum will dem Besucher so viel geballte Schwermut auf jeden Fall auch nicht zumuten. Deshalb ist der nächste Raum im Kontrast zum vorhergegangenen ganz in Weiß gehalten. Hier sind die Geschichten der sogenannten „Gerechten unter den Völkern“ ausgestellt, jener Menschen also, die Juden versteckt oder sonst irgendwie geholfen und gerettet haben. Das soll einen optimistischen Blick in die Zukunft ermöglichen.
Das ist sehr spannend, kommt mir heute irgendwie falsch vor. Im echten Leben gibt es nun mal nicht immer ein Happy End.

Montag

Der heutige Tag fing recht langsam und gemütlich an. Gestern hat uns der hiesige Freiwillige, Jonas, vom Bahnhof abgeholt. Danach waren wir noch in einer Kneipe – wieder einmal nur mit Deutschen. Ein weiterer Freiwilliger aus Warschau und zwei quirlige Abiturientinnen von der Waldorfschule sind dabei. Die Mädels sind beide kurz davor, ins Ausland zu gehen. Die haben noch alles vor sich! Ich bin fast ein bisschen neidisch. Natürlich interessieren sie sich sehr für unsere Erfahrungen. Ich komme ganz schön ins Trudeln: Gar nicht so einfach, ein ganzes Jahr in ein paar Sätzen verständlich zusammenzufassen… Muss ich noch üben, in diese Verlegenheit werde ich in den nächsten Monaten wohl öfter kommen…

Heute also Krakau. Und wieder einmal finden wir uns nur mithilfe unseres guten alten Freundes, des Internets, zurecht. Das verrät uns nämlich, wann und wo es in der Stadt „Free Walking Tours“ gibt. Dieses relativ neue touristische Konzept haben wir schon in Budapest ausprobiert: Auf der Internetseite steht ein Treffpunkt und eine Uhrzeit, man muss sich nicht anmelden, sondern einfach hingehen. Unheimlich, wie sich an diesem Ort zu dieser Zeit auf einmal aus dem Nichts eine Menschenmenge kristallisiert. Gut 50 Leute aus mindestens 20 verschiedenen Ländern, alle Erteile sind vertreten. Da keine festgelegte Gebühr verlangt wird, strengen sich die meist sehr jungen Stadtführer extrem an, die Teilnehmer gut zu unterhalten und ein möglichst großes Taschengeld einzustreichen. Das geht ein bisschen auf Kosten der Seriosität und historischen Genauigkeit. Man bekommt aber einen guten Überblick für wenig Geld, und einige interessante Anekdoten kann man allemal mit nach Hause nehmen. Zum Beispiel, dass irgendein kraukauer König allen Deutschen in der Stadt, nachdem diese die Macht an sich reißen wollten, im Umkehrschluss den Kopf abreißen wollte. Um die Nationalität festzustellen, ließ er alle Bewohner vier für Polen leicht auszusprechende polnische Worte sagen. Die vier in der Führung anwesenden Deutschen versagen bei dieser Herausforderung auf der ganzen Linie. „See, it still works“, kommentiert der Stadtführer. Er ist es auch der uns endlich über das wahre Verhältnis zwischen Polen, Russen und Deutschen auf: „ What does a polish Soldier do if he sees a german soldier on his left side and a russian soldier on his right side? He shoots first the German, then the Russian. Why? First business, then pleasure.“. Na Danke. Am Ende wird ein Stadtplan verteilt, auf dem die besten Restaurants und Kneipen verzeichnet sind. Auf der Rückseite kann man wichtige Phrasen auf Polnisch lernen, z.B. „Ich kenne diese Frau nicht, das Kind ist nicht von mir“ oder „Ich mag Warschau nicht“.
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Ein Regenschauer macht uns nass bis auf die Knochen. Dann sehen wir uns noch das jüdische Viertel Kasimierz an.

Schließlich kochen wir für Jonas und seine sechs polnischen Mitbewohner zu Abend. Die wollen uns erstaunlicherweise gar keinen Kopf kürzer machen, sondern bieten uns polnischen Büffelgraswodka (sehr lecker!) an und kramen zu fortschreitender Stunde einer nach dem anderen sogar verschämt die Reste ihres Schuldeutschs heraus. Auf einmal kann ich meinen Pessimismus von gestern nicht mehr verstehen.

Mittwoch

Eine Woche Polen, eine Woche lang habe ich die Sonne kein einziges Mal zu sehen bekommen. Sie hat die ganze Zeit an der Grenze auf uns gewartet. Kaum sind wir in Bohumin – strahlender Sonnenschein und blauer Himmel, soweit das Auge reicht.
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In meiner Erinnerung wird Polen dennoch immer sonnig und heiter sein.

Sonntag, 1. Mai 2011

Urlaub von der Gegenwart – Zu Gast in einem tschechischen Wochenendhaus

Wenn man frühmorgens mit dem Zug aus Brno in Richtung Norden fährt, erst durch die schier endlosen Plattensiedlungen am Stadtrand, dann durch das in Nebel getauchte mährische Hügelland, so kommt man irgendwann nach Letovice. Ich bin die Einzige, die an diesem Frühlingsmorgen an dem kleinen Bahnhof im Nirgendwo aussteigt.
Maehren
Gut, dass am Gleis Lukas auf mich wartet. Lukas, 25 Jahre alt, Informatiker, möchte gerne Deutsch lernen und ich Tschechisch. Deshalb treffen wir uns regelmäßig zum sogenannten Lerntandem und bringen uns gegenseitig Schimpfwörter und die Namen der wichtigsten Backwaren bei. Außerdem verbindet uns unsere gemeinsame Leidenschaft für das Geigenspiel. Lukas verwehrt sich gegen meine Feststellung, am Ende der Welt angekommen zu sein und erklärt, dass Letovice schon bessere Tage gesehen hat: Mit seinem Kloster der Barmherzigen Brüder und der Tylex-Textilfabrik galt es lange als wirtschaftliches und kulturelles Zentrum der Region. Doch diese Zeiten sind längst vergangen; übrig geblieben ist ein kleines, verschlafenes, mährisches Dorf. Und mittendrin steht die kleine Chalupa, in die Lukas und seine Frau Hanka mich heute eingeladen haben. Hanka hat Englisch und Spanisch studiert und lernt gerade noch Portugiesisch.

Chalupas sind Wochenendhäuser und in Tschechien sehr beliebt. Nahezu jeder, der etwas auf sich hält, fährt am Freitagabend aus der Großstadt aufs Land. Dieser Umstand lässt sich vielleicht mit einem Blick auf die jüngere tschechische Geschichte erklären. Der Kommunismus stieß in Tschechien von Anfang an nicht auf sonderlich viel Gegenliebe. Man versuchte, sich einen Sozialismus nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten, liberaler und demokratischer. Diese Hoffnung wurde jäh zerstört, als im Frühling 1968 die Panzer des Warschauer Paktes in Prag einrollten und der Reformbewegung ein gewaltsames Ende setzten. Die ganze Nation erhielt einen Schock, von dem sie sich bis heute nicht ganz erholt hat. In der folgenden Zeit entstanden ganze Viertel im immer gleichen grauen, schmucklosen Betondesign. Selbst die Wohnungen glichen sich im Detail. Raum zur freien Entfaltung war im System nicht vorgesehen.
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Die Wochenendhäuser hingegen gaben dem Wunsch nach einem besseren Leben Ausdruck, abseits der urbanen Monotonie. Nach 1990 hat sich daran nicht allzu viel geändert: Die Betonburgen werden als Wohnraum gebraucht. Sie wurden zwar bunt angestrichen, werden aber immer noch als das alltägliche Übel angesehen, wohingegen in der Chalupa das wochenendliche Vergnügen wartet. Hier kann man seiner Individualität Ausdruck verleihen, basteln, werkeln und gärtnern, ganz nach Belieben. Auch Lukas und Hanka fahren jede Woche hierher und richten das alte, einstöckige Häuschen schrittweise wieder her.

Wie so viele hat auch Lukas seine Chalupa von Vorfahren geerbt, die auf dem Land wohnten. Wenn man über die Schwelle tritt, fühlt man sich sogleich, als wäre man mit der Zeitmaschine geradewegs in ein anderes Jahrhundert gereist. Alles ist voll von Erinnerungsstücken an die mehreren Generationen aufrechter Menschen, die in diesem Haus gelebt haben. In einer Ecke steht eine alte Standuhr mit Pendel, gegenüber, auf dem massiven Eichenschrank mit figürlichem Schnitzwerk auf den Türen, eine Schreibmaschine der ersten Generation. In der Glasvitrine in der Küche ist biedermeierliches Blümchenporzellan ebenso zu finden wie ein Blechservice inklusive Teekanne. Ein besonders kurioses Objekt steht neben der Tür zum Esszimmer: Ein Frisiertisch aus dem vorvergangenen Jahrhundert. Lukas erzählt, dass sein Großvater, seines Zeichens Friseur und Barbier, hier noch bis in die siebziger Jahre seine Kunden bedient hat. Dann stellte man ihn vor die Wahl, seinen Laden entweder verstaatlichen zu lassen oder zu schließen. Lukas‘ Großvater entschied sich für Letzteres und reihte sich somit ein in die Liste der unzähligen Menschen, die nicht mit dem System kooperierten oder einfach zu laut ihre Meinung sagten und infolgedessen mit gravierenden Nachteilen, Bespitzelung oder sogar Gefängnisstrafen rechnen mussten.

Zum Mittagessen gibt es „Spanische Vögel“, eine urtypische tschechische Spezialität, die hauptsächlich aus Rindfleisch und Wurst besteht und für die Hanka sicherlich stundenlang in der einfach ausgestatteten Küche stehen musste. Es schmeckt herrlich, vor allem kombiniert mit einem Gläschen mährischen Wein, den Hankas Onkel selbst keltert. Beim Essen machen wir es uns auf einer massiven Eichenbank gemütlich. Auch dieses Möbelstück hat Geschichte: Es ist das Geschenk des Klosters an Lukas´ Vater, einen aktiven Messdiener und Kirchenmusiker, der außerdem bei allen notwendigen Reparaturen im Klostergebäude Hand anlegte. Sein Engagement kostete ihn das staatliche Stipendium. Aus Dankbarkeit für seine Hilfe übernahm das Kloster die Kosten für seine Ausbildung, sonst wäre eine akademische Laufbahn für Lukas´ Vater undenkbar gewesen. Auch die Kirchen standen auf der Abschussliste der kommunistischen Regierung. Sie wurde gezielt blockiert und ausgebremst. Das führte nach und nach zu einer völligen Austrocknung der Spiritualität in Böhmen und Mähren, die bis heute anhält: Tschechien ist momentan eines der atheistischsten Länder Europas. Dabei war das tschechische Selbstverständnis jahrhundertelang untrennbar mit dem Katholizismus verbunden. Die zahlreichen Heiligenbildchen und Wallfahrtssouvenirs, die in der Chalupa von Lukas und Hanka verteilt sind, tragen Zeugnis davon.
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In solch einer Umgebung lässt es sich ungestört der Nostalgie frönen: Den Nachmittag verbringen wir mit traditionellen tschechischen Liedern, mit Singen, Spielen und noch etwas mehr Wein. Beim folgenden Spaziergang bin ich schon recht gut gelaunt. Danach geht es weiter mit Slibowitz, dem obligatorischen Pivo und natürlich Pomazánka, einer tschechischen Spezialität, für die der Kühlschrank geplündert, alles vermischt und dann aufs Brot gestrichen wird. Das Resultat ist meist erstaunlich schmackhaft. Kein Zweifel, die kulturelle und kulinarische Tradition des Landes ist mir mittlerweile sehr ans Herz gewachsen.

Deshalb kann ich Lukas und Hanka auch gut versehen: Beide sind ganz und gar Kinder ihrer Zeit, sprechen Fremdsprachen, haben Auslandserfahrungen und immer einen Labtop dabei. Und dennoch genießen sie es ganz offensichtlich, Woche für Woche in die Vergangenheit einzutauchen, in ein anderes Kapitel der tschechischen Geschichte, als von Faschisten und Kommunisten noch niemand etwas ahnte. Die Vergangenheit ist immer präsent, sie ist ein Teil des täglichen Lebens. Zwar ist es eine etwas verzerrte Geschichtswahrnehmung, die bestimmte Aspekte bewusst ausblendet. Doch als die Stimmung immer besser wird und die Lieder immer wilder, wissen alle, dass das nicht die schlechteste Art ist, sein kulturelles Erbe zu pflegen. =)

Freitag, 3. Dezember 2010

Ein Wochenende

Es gibt eigentlich keinen triftigen Grund, an einem kalten Samstagmorgen mit dem Zug in das kleine Dorf Řehlovice zu fahren. Es sei denn, man will wie wir zum deutsch-tschechischen Kulturbrunch im ortsansässigen Kulturzentrum. Und ganz offensichtlich hat ein Großteil der Zugpassagiere denselben Plan. Kaum sind wir eingestiegen, gibt es ein großes Hallo: Da sind die Freiwilligen aus der Gedenkstätte in Theresienstadt mit ihrem Vorgänger und ihrem Mitbewohner, der in Tschechien Deutsch unterrichtet; da ist die Koordinatorin von ASF und Servitus in Tschechien; die Freiwillige vom deutsch-tschechischen Kulturbüro in Ustí nebst Vorgänger; amerikanische Studenten, die gerade in Prag wohnen und die irgendjemand eingeladen hat sowie diverse aktuelle und ehemalige Aktive aus dem Kultur- und Freiwilligenbetrieb. Man begrüßt sich, man duzt sich, redet Deutsch, Tschechisch und Englisch und freut sich auf das gesellschaftliche Highlight, das einen in dem (laut Website) liebevoll restaurierten Gutshof erwartet.

Tatsächlich gehen in im Gut Řehlovice Verfall und Improvisation eine Verbindung ein, die allerdings, verknüpft mit der romantischen Lage inmitten von verschneiten Feldern, sehr charmant wirkt. Trotz Anmeldung stehen wir nicht auf der Gästeliste; macht nichts, wir dürfen trotzdem rein. Wir betreten einen Raum, der durch ein paar alte Schränke in zwei Hälften geteilt ist: Dahinter stehen Betten, auf denen weit gereiste Kulturfreunde bereits übernachtet haben, davor stehen allerlei Stühle und Sofas sowie ein Podest, das später als Bühne fungieren soll. Im nächsten Raum, einem hohen Backsteingewölbe, sind das Buffet und ein bunt zusammengewürfeltes Sammelsurium aus Tischen und Stühlen aufgebaut. Auf den Treppen findet sich letztendlich doch noch ein Sitzplatz für uns. Das Buffet ist spektakulär: In mindestens vier Gängen wird eine kulinarische Reise in die Vergangenheit des deutsch-tschechischen Grenzgebietes unternommen. Dass es sich dabei nicht gerade um kalorienarme Trennkost handelt, versteht sich von selbst.

Bald ist die Luft erfüllt von Essgeschirrgeklapper und angeregten Gesprächen. Man kennt sich, war schön öfter an diesem wunderbaren Ort, reist überhaupt gerne ins ländliche Böhmen, wo die Zeit stehen geblieben zu sein scheint und die Uhren langsamer ticken. Kultur gibt es natürlich auch: Ein Schulorchester aus der Region darf sich auf der Bühne erproben, später wird auf Deutsch und Tschechisch über Beziehung zwischen Kunst und Zeitgeist diskutiert. Ein hochbrisantes Thema; noch etwas mehr interessiert mich allerdings zugegebenermaßen das Kuchenbuffet, das inzwischen aufgetragen wird. Und natürlich die Unterhaltung mit meiner direkten Vorgängerin in der Projektarbeit in Brno, Silvia. Es ist schon seltsam, wie dieselben, uns vorher unbekannten Menschen, durch den Freiwilligendienst ein fester Bestandteil unser beider Leben geworden sind. Außerdem ist es erleichternd, zu erfahren, dass auch sie Machtkämpfe mit Dusan aus dem Wohnheim ausstehen musste und Frau R. aus dem Altenheim nicht nur bei meinen Besuchen nach 15 Minuten einschläft.

Als wir uns endlich auf den Weg nach Prag machen, ist es schon dunkel. Es ist Samstagabend und wir fahren noch nicht zurück nach Brno. Wir sind eingeladen in eine internationale WG nahe der Prager Burg. Ein Programmierer aus Italien wohnt hier, zwei Studenten aus Frankreich und Wales und zwei deutsche Freiwillige, von denen eine, Tine, heute Geburtstag hat. Die nach und nach herbeiströmenden Partygäste bekommen allesamt erst mal ein Bier in die Hand gedrückt und verteilen sich in der ganzen (beneidenswert großen und modernen) Wohnung. Chloé, die französische Mitbewohnerin, erklärt als erstes ihre 10-Kronen-Regel: Wer nicht dieses Bußgeld zahlen will, muss darauf achten, in Anwesenheit Nicht-Deutscher ausschließlich Englisch (oder Tschechisch ;)) zu reden. Fast immer also. Denn die Festgemeinschaft ist eine bunte Mischung aus Freiwilligen und Studenten aus allen vier Himmelsrichtungen. Gesprächsthemen sind schnell gefunden: Tschechien, Prag, die jeweiligen Herkunftsländer, die Arbeit, die immer gleichen Probleme: Zu viel Arbeit, zu wenig Arbeit, die tschechische Sprache. Nie vergisst man, sein Gegenüber herzlich einzuladen, in der heimlichen Hoffnung, ebenfalls ein Dach über dem Kopf angeboten zu bekommen.

In der Küche werden Berge von Spagetti mit Fertigbolognese fabriziert. Nicht, dass ich noch Hunger hätte… aber was solls. Inzwischen ist man auf Wein und Sekt umgestiegen, die Stimmung wird ausgelassener. Auch bei der Gastgeberin, die jetzt ihre Geschenke auspackt. Darunter ist auch ein Notizbuch, das bisher nur den Titel von Tine´s zukünftigem Bestseller enthält: „European Mojito“, eine Vergleichsstudie, in der sie die besten Cocktailbars auf dem ganzen Kontinent ausfindig machen will. Sie hat bereits mit den Recherchen begonnen. Nach einiger Zeit gibt sie dem allgemeinen Drängen nach und hält eine feierliche Ansprache: „ I appreciate your coming. Thanks for turning this evening into something special. We will rule the world!!“ Begeisterter Beifall der Anwesenden. Remo, einer der Theresienstadtfreiwilligen, stellt sachlich fest: “Es sind 11 Nationalitäten da heut Abend.” Ungläubige Gesichter. Mal nachzählen: Tschechien, Kanada, Bulgarien, Frankreich, Großbritannien, USA, Rumänien, Schweden, Österreich, Italien, Türkei, Deutschland. Tatsächlich.

Die Deutschen, obwohl deutlich in der Überzahl, haben es längst aufgegeben, zu Deutsch zu wechseln - auch wenn sie unter sich sind. Dann gibt es auch noch Apple-Crumbles und dreierlei Schokokuchen und ich überlege mir, wie gut sich so viele unterschiedliche Kulturen beim Thema Essen verstehen. Um 22.00 zieht die gesamte Festgemeinschaft aus. Nachtruhe in der Altbauwohnung! Nicht aber im Club „Akropolis“, wo noch einiges an pivo und mojito fließen wird.

Der nächste Tag beginnt spät und mit kollektivem Herumgammeln. Dazu gibt es genügend Möglichkeit in der Wohnung, die sich über Nacht in ein Matratzenlager verwandelt hat . Gespräche über die EU (Yannick prophezeit ihr ein langes Leben, währned Linnea schon ihren Untergang nahen sieht) und darüber, was „verarschen“ auf verschiedenen Sprachen heißt. Dazu werden die Reste vom Vortag gegessen. Das Leben kommt mir gar nicht hart vor. Und Mutikulti kann gar nicht so tot sein.

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Lieber Herr Prof. Ehrle,...
Lieber Herr Prof. Ehrle, vielen Dank für ihr fortgesetztes...
evamariawalther2 - 18. Sep, 13:51
https://www.asf-ev.de/de/e inblicke/lebenszeichen-vom -freiwilligendienst/eva-ma ria-walther.html
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EvaMariaWalther - 10. Jun, 18:30
Nachtrag: Ganze 1 1/2...
Nachtrag: Ganze 1 1/2 Wochen hat meine Fahrsperre gedauert....
EvaMariaWalther - 10. Mär, 23:26
https://www.asf-ev.de/de/e inblicke/lebenszeichen/eva -maria-walther.html
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EvaMariaWalther - 10. Mär, 23:21
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