Freitag, 24. September 2010

Spaziergang durch Brno

Ein Termin fällt aus, und ich habe plötzlich völlig unverhofft drei Stunden Zeit in der Stadt. Welch unerhörte Freiheit! Brno, mein zukünftiges Zuhause, liegt vor mir wie eine Schatzkiste, in der ein Schlüssel steckt. Die Glücksgefühle strömen über, als ich durch die Häuserschluchten mit den ehrwürdigen, charmant morbiden Fassaden schlendere. An jeder Kreuzung schlage ich, ohne zu überlegen, einen Weg ein und trauere gleichzeitig zwei vergebenen Chancen nach. Aber, ach! ich habe Zeit, mich nach und nach dieses unbekannten Terrains zu bemächtigen...

Was gleich auffällt, ist, dass die meisten Tschechen Zebrastreifen für eine Art dekorative Straßenbemalung halten. Dass diese rätselhafte Zeichnung irgendeine Bedeutung für das Verkehrsgeschehen haben könnte, ist ihnen jedenfalls gänzlich unbekannt. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Tschechen Inlineskaten nicht für einen alten Hut mit demselben Verfallsdatum wie Tic Tac Toe oder Ghettoblaster halten, sondern für den letzten Schrei. So ist das Überqueren der Straße jedes Mal ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang.

Geschafft. Auf der anderen Straßenseite angelangt, erregt ein Ladenschild meine Aufmerksamkeit: „Cech a Nemec“, Tscheche und Deutscher, prangt da in goldenen Lettern. Was mag sich wohl dahinter verbergen? Ein deutsch-tschechisches Kulturinstitut? Eine Sprachschule? Ein internationales Restaurant? Ich trete näher und bin erstaunt: Es handelt sich um ein Geschäft, das Bilderrahmen verkauft. Interessant. Erachtet der Besitzer dieses Ladens Deutsche und Tschechen als Rahmen Europas? Oder fallen Tschechen und Deutsche aus dem Rahmen? In Gedanken über einen tieferen Sinn dieser Namensgebung versunken, finde ich mich vor einer Passage wieder. Darin: Menschen mit dunkler Haut und schwarzen Haaren. Roma! Schon halte ich meine Handtasche fest und suche nach einer Ausweichmöglichkeit, als mir die Lächerlichkeit meines Tuns bewusst wird. Bei den Menschen in der Passage handelt es sich um zwei Mädchen von höchstens zwölf Jahren. Eine vollführt Tanzbewegungen zu einer Musik, die nur sie hört. Es sieht verdächtig nach Hip-Hop aus. Wir lächeln uns zu.

Bald darauf entdecke ich rechts der Straße eine efeubewachsene Treppe, die einem unsichtbaren, oberhalb gelegenen Ziel führt. Ich überlege nicht zweimal und mache mich an den Aufstieg; allzu verlockend ist der Gedanke, von oben eine Aussicht auf die Stadt zu haben. Das Tückische ist, dass man von unten aus nicht sieht, wie weit der Gipfel noch entfernt ist. Die Jacke, die ich mitgenommen habe, erweist sich bald als völlig sinnloser Balast. Keuchend und schwitzend komme ich schließlich oben an. Welche Überraschung: Ich bin völlig zufällig auf der Brünner Burg, der Hrad Spilberk, gelandet! Der Ausblick von hier oben lässt sich nur schwer beschreiben, ohne in die gängigen Touristenklischees zu verfallen. Der aufmerksame Leser fragt sich jetzt vielleicht, warum ich an dieser Stelle keine Bildergalerie mit 120 Fotos und Bildunterschriften wie „Der herrliche Blick von der Brünner Burg“ oder „Ich bin der König der Welt!“ einfüge. Die Antwort ist sehr leicht. Innerer Dialog der Autorin vor dem Aufbruch in die Stadt: „Soll ich den Fotoapparat mitnehmen?“ – „Nein, den schleppst du doch nur mit dir rum.“ – „Aber was, wenn ich doch Gelegenheit zum Fotografieren habe? Wir haben herrliches Wetter, keine Wolke am Himmel. Das wären unvergleichliche Bilder!“ – „Du hast einen Termin bei der jüdischen Gemeinde und kein Fotoshooting! Jetzt leg das olle Ding auf den Flügel und fertig.“ Tja, und da liegt er jetzt. Ein Glück, dass meine sprachlichen Bilder eine solche Leuchtkraft besitzen, dass sie über den Mangel an unmittelbar visuellem Material spielend hinwegtrösten:

Von der Brünner Burg hat man einen sehr schönen Blick.

Nach ausreichendem Genuss desselben mache ich mich wieder an den Abstieg. Einmal mehr begegne ich der wohl größten Liebe der Tschechen: Ihren Hunden. Wenn man sie denn so nennen kann. Die felligen Bündel, die jeder zweite Tscheche hinter sich her zu ziehen scheint, kann man schon mal mit einer den Berg hinab rollenden Kastanie verwechseln. Zum verwechseln ähnlich ist auch das Geräusch, das ertönt, wenn man versehentlich auf ein solches Hündlein tritt. Nicht, dass ich aus Erfahrung spräche…

Mein leerer Magen zieht mich magnetisch zur Stadtmitte, vorbei an herrschaftlichen Theatern und Museen. Standhaft lasse ich den McDonalds neben mir liegen. So tief bin ich noch nicht gesunken! In einem fremden Land voller Möglichkeiten einem globalen Massenfraß zu frönen! Ich hole mir stattdessen an der nächsten Straßenecke ein Stück Pizza.

Schließlich lasse ich mich an der Straßenbahnhaltestelle nieder und warte auf meinen Zug. An der Haltestelle „Pisarky“ gibt es Treppen, Geländer, ein überdachtes Wartehäuschen. Urbaner Raum! Denken zumindest die acht Parcours-Sportler, die dieses Gelände nutzen, um atemberaubende Sprünge, Saltos, Drehungen und sonstige Kunststücke zu üben. Ich bin in der Großstadt!, sage ich zu mir selbst. In meiner neuen Stadt, der Metropole Brno! Das zufriedene Grinsen auf meinem Gesicht will einfach nicht verschwinden.

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Lieber Herr Prof. Ehrle,...
Lieber Herr Prof. Ehrle, vielen Dank für ihr fortgesetztes...
evamariawalther2 - 18. Sep, 13:51
https://www.asf-ev.de/de/e inblicke/lebenszeichen-vom -freiwilligendienst/eva-ma ria-walther.html
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EvaMariaWalther - 10. Jun, 18:30
Nachtrag: Ganze 1 1/2...
Nachtrag: Ganze 1 1/2 Wochen hat meine Fahrsperre gedauert....
EvaMariaWalther - 10. Mär, 23:26
https://www.asf-ev.de/de/e inblicke/lebenszeichen/eva -maria-walther.html
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EvaMariaWalther - 10. Mär, 23:21
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