Dienstag, 5. Oktober 2010

Aus dem Leben einer hart arbeitenden Freiwilligen - Teil I

Ein bisschen mulmig ist mir schon zumute, als ich vor dem Behindertenwohnheim „Zabovreska“ im Brünner Stadtteil Pisarky stehe. Die hehren Ziele, mit denen ich hergekommen bin (etwas Sinnvolles tun, helfen nach Bedarf, Am-Rande-der-Gesellschaft-Stehende unterstützen), erscheinen mir plötzlich recht utopisch. Weder bin ich der Sprache mächtig, noch habe ich besonders viel Erfahrung mit dieser Art von Arbeit. Verschüchtert mustere ich die graue Fassade des 2-stöckigen Plattenbaus, in dem die acht Klienten leben, um die ich mich das nächste Jahr über kümmern soll. Doch da wird die Gartenpforte aufgestoßen, eine junge Frau kommt herein, sagt, dass sie K. heißt, und nimmt mich zur Begrüßung herzlich in die Arme. „Aber ich kann leider nur wenig Tschechisch“, stottere ich, völlig überrumpelt. „To nevadí!“, das macht nichts, antwortet K. lächelnd und zieht mich hinter sich ins Haus.

Und schon sitze ich auf der gemütlichen Couch in der Wohnküche, dem Herzstück des Gebäudes, eine dampfende Tasse Tee in der einen, eine frische Orange in der anderen Hand. Was sich vor meinen Augen abspielt, sieht nach dem friedvollen Alltag einer ziemlich netten Großfamilie aus: man kocht, unterhält sich, im Fernsehen läuft ein Hockeyspiel. K. hat vorhin allerdings ein bisschen übertrieben mit der reibungslosen Kommunikation. Olga, die Leiterin des Hauses, und alle anderen Mitarbeiter, sprechen nämlich nur mittelmäßiges Englisch und erst recht kein Deutsch. Von den Konversationen verstehe ich daher nur herzlich wenig, und wenn jemand etwas von mir will, muss er das schon zwei-, dreimal sagen. Aber so viel Geduld haben hier zum Glück alle.

Am Freitagabend treffen sich die Mitarbeiter, um zu reden und dabei neuen Wein zu trinken, der so neu gar nicht mal ist. Ich habe, passend zum Anlass, original german Zwiebelkuchen mitgebracht. Merke: Willst du Tschechen für dich gewinnen, dann bring ihnen etwas zu Essen mit und sag, dass du Milan Kundera toll findest. Ich verstehe zwar nicht viel, verfolge aber trotzdem mit, wie Anwesenden immer fröhlicher, das Gelächter immer ausgelassener wird. Auf das übliche Lamentieren über zu lange Arbeitszeiten und Lästern über Vorgesetzte und Untergebene, das ich bei Praktika schon so oft zu hören bekommen habe, warte ich vergebens. Stattdessen tauscht man sich über die Klienten in liebevollem, mitunter gar bewunderndem Ton aus. Wie gut E. tanzen könne und was für ein bemerkenswertes Gedächtnis A. habe. „They are special people“, sagt Lenka, die dankenswerterweise immer mal wieder ein wenig für mich übersetzt. „I think we should learn from them also.“

Ein wahres Wort. Vor allem für mich. Denn egal, was ich in der nächsten Woche unternehme, ob ich die Klienten von der Werkstätte abhole oder mit ihnen essen gehe: Immer bin ich auf ihre Hilfe angewiesen. Die gefühlten 10 000 Bushaltestellen Brnos sind mir genauso fremd wie 2/3 der Begriffe, die auf der Einkaufsliste stehen. Natürlich fühlt sich das erst mal etwas seltsam an, wie verkehrte Welt eben. Aber man gewöhnt sich daran, und die „Klienten" tragen mit ihrer offensichtlich nicht an Bedingungen geknüpften Akzeptanz wesentlich dazu bei, dass ich mich schnell wohl fühle. D., ein etwas älterer Klient, packt sogar extra für mich seine Deutschkenntnisse aus. Mit hinterm Rücken verschränkten Händen und bedeutungsschwerer Miene führt er seine Erläuterungen aus, wobei er das „r“ von „aberrr“ genüsslich rollt. Dass es keinerlei Sinn macht, was er da erzählt, ist dabei absolut zweitrangig.

Insgesamt fühlt sich meine Tätigkeit bei der Caritas verdächtig wenig nach Arbeit an: Ein bisschen spazieren gehen, ein paar pflegerische Aufgaben, ein bisschen Hausarbeit, ein bisschen kochen, ganz viel Essen und ganz viel Straßenbahn fahren.

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Lieber Herr Prof. Ehrle,...
Lieber Herr Prof. Ehrle, vielen Dank für ihr fortgesetztes...
evamariawalther2 - 18. Sep, 13:51
https://www.asf-ev.de/de/e inblicke/lebenszeichen-vom -freiwilligendienst/eva-ma ria-walther.html
https://www.asf-ev.de/de/e inblicke/lebenszeichen-vom -freiwilligendienst/eva-ma ria-walther.html
EvaMariaWalther - 10. Jun, 18:30
Nachtrag: Ganze 1 1/2...
Nachtrag: Ganze 1 1/2 Wochen hat meine Fahrsperre gedauert....
EvaMariaWalther - 10. Mär, 23:26
https://www.asf-ev.de/de/e inblicke/lebenszeichen/eva -maria-walther.html
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EvaMariaWalther - 10. Mär, 23:21
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EvaMariaWalther - 2. Sep, 22:29

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