Sonntag, 14. November 2010

Exklusive Vorveröffentlichung: Artikel für die ASF-Homepage

Aus dem Leben einer hart arbeitenden Freiwilligen, Teil II: Man hört nur mit den Augen gut

Mein Freiwilligendienst in Tschechien hat mich in meinen Grundfesten erschüttert. Prinzipien, die ich für unumstößlich hielt, gelten auf einmal nicht mehr. So war ich zum Beispiel immer davon ausgegangen, dass Zuhören und Verstehen in einem logischen, konsekutiven Zusammenhang stehen. Dabei ist, wie ich bald feststellen musste, zumindest ein Zuhören ohne Verständnis sehr wohl möglich.

Zuhören gehört, neben leichten Arbeiten im Haushalt und kleinen Besorgungen, offiziell zu meinen Aufgaben in der offenen Altenarbeit für die jüdische Gemeinde der Stadt Brno. Zum Beispiel für Frau D. Frau ist 84 Jahre alt; sie ist klein und braunhaarig, ihre Bewegungen sind so langsam und vorsichtig wie die einer Frau, die eine große Last mit sich herumträgt. Ihre kleine Mietwohnung in einem Plattenbau am Stadtrand verlässt sie nur sehr selten. Wenn mich nun also Frau D. bittet, Geschirr zu spülen oder Staub zu saugen, kann sie mir das mithilfe einfacher Gesten und Gebärden leicht verständlich machen. Erst wenn wir uns danach an dem kleinen runden Tisch in ihrer kalten Küche niederlassen und sie anfängt, aus ihrem Leben zu erzählen, wird es problematisch. Denn Frau D. spricht nur Tschechisch.

Ich will mich hier nicht zu einer Kampfschrift gegen die tschechische Sprache hinreißen lassen – deshalb spreche ich hier nicht über unmögliche Konsonantenhäufungen, verliere kein Wort über die 7(!) Fälle des Tschechischen und die gefühlten 2000 unterschiedlichen Deklinationsmuster, nach denen sie gebildet werden, und erwähne mit keinem Wort die unzähligen Ausnahmen und Sonderfälle, die man auswendig lernen könnte.Tschechisch-einfach-unmoeglich

Es genügt wohl, wenn ich sage: Meist gebe ich schon nach fünf Sätzen auf, Frau D. verstehen zu wollen. Zuhören muss ich aber immer noch, und das ist viel schwerer als vermutet. Es reicht aber bei weitem nicht aus, durch zustimmende Bemerkungen Aufmerksamkeit zu simulieren und die Mimik des Gegenübers exakt zu kopieren. So kann ein Lächeln, wenn es schüchtern und verträumt ist, ein Hinweis auf eine schöne Erinnerung sein und somit eine unbedingte Aufforderung, sich anzuschließen. Ist das Lächeln allerdings gequält, könnte nichts falscher sein, als es zu erwidern. Hier verbergen sich oft, übertüncht von einer dicken Schicht Sarkasmus und Bitterkeit, jene Erinnerungen, die sonst zu sehr schmerzen würden.

Nach einer Tasse Instantkaffee gehen wir spazieren, und während uns die Novembersonne vielleicht zum letzten Mal in diesem Jahr ins Gesicht scheint, fühle ich mich ganz erschöpft vom vielen Zuhören und frustriert vom wenigen Verstehen. Frau D. aber erzählt unbeirrt weiter. Je länger ich aber dem schier endlosen Redefluss der alten Dame lausche, desto wahrscheinlicher erscheint es mir, dass ihr vielleicht genau das schon reicht. Außerdem entdecke ich nach und nach umgekehrt eine Art des Verstehens, die ohne Zuhören funktioniert.
pittoreske-Plattenbauten
Worte wie „Terezin“ (Theresienstadt) und „koncentrační tábor“ (Konzentrationslager) kenne ich. Ich verstehe sogar, was Frau D. von ihrem Hund erzählt: Bei ihrer Rückkehr fand sie das treue Tier tot in seiner Hundehütte, wo es drei Jahre lang wartend gelegen hatte. Was Frau D. aber in diesen drei Jahren erlebt hat -Hunger, Kälte, Demütigungen- könnte ich auch in einem Geschichtsbuch nachlesen. Und würde wahrscheinlich genauso wenig verstehen.

Das vorsichtige, schmerzhafte Lächeln ist da viel aufschlussreicher, es verleiht den Worten etwas Greifbares. Es ist das Resultat eines Lebens, das sich um eine schreckliche Erinnerung rankt. Ums Verdrängen, Beschönigen, darüber Reden – um den lebenslangen Kampf mit den Gespenstern im eigenen Kopf. So gesehen ist die bittere Ironie vielleicht sogar ein kleiner Triumph, ein Modus vivendi, der sich nur mit reichlich zeitlichem Abstand einnehmen lässt.

Das Lächeln ist ein unstetes. Manchmal verschwindet die Bitterkeit, und ein echtes Lachen breitet sich auf Frau D.s Gesicht aus. Das passiert, wenn das Wort „manžel“ (Ehemann) fällt. – Ihren späteren Gatten hat Frau D. im Alter von 17 Jahren in Theresienstadt kennen gelernt. Der „manžel“ ist jetzt schon seit 18 Jahren tot.

Er hat sie sicher verstanden, seine Frau D. Vielleicht als Einziger. Ich kann nur versuchen, immer genauer hinzuhören und zu –sehen, um dem Verständnis ein Stückchen näher zu kommen.

Exkusiver Vorabdruck: Artikel für die RNZ

„Und was machst du nach der Schule?“
Wie wohl jedem Abiturienten wurde auch mir diese Frage im letzten Jahr häufig gestellt. Lange habe ich mich vor den Reaktionen auf meine Antwort gefürchtet: Sie reichten von ungläubigen Gesichtern über geheucheltes Interesse bis zu Unverständnis oder Mitleid. Ich werde bis August nächsten Jahres in Tschechien leben und in sozialen Projekten arbeiten.

Die Republik Tschechien ist im Bewusstsein vieler Deutscher langweilig und wenig attraktiv. Und das, obwohl manch einer nicht viel mehr als Karel Gott, die wichtigsten Biersorten und eine unmögliche Sprache mit diesem Land in Verbindung bringen kann. Warum ist das Interesse der Deutschen an unserem Nachbarn so gering?

Um Antworten auf diese Fragen zu finden, musste ich zunächst einmal an meinem eigenen Bild von diesem Land arbeiten. Denn, offen gestanden: Auch ich hatte mir Tschechien nicht unbedingt als Ziel meines Freiwilligendienstes auserkoren. Auf der Suche nach einer geeigneten Art und Weise, ein Jahr lang im Ausland zu arbeiten, stieß ich auf die Organisation „Aktion Sühnezeichen Friedensdienste“. Diese Organisation wurde kurz nach dem zweiten Weltkrieg gegründet. Bis heute schickt sie junge Menschen ein Jahr lang in Länder, die besonders stark unter den Nationalsozialisten gelitten haben, um dort für eine friedlichere Zukunft einzutreten. Fürsorge für die Opfer des Nationalsozialismus gehört dort ebenso zu ihren Aufgaben wie der Kampf gegen jede Art von Diskriminierung. Diese Verbindung von praktischer sozialer Arbeit und politischem Anspruch gefiel mir, und ich bewarb mich. Als mir nach einem Auswahlseminar und vielen Wochen des bangen Wartens dann mein Projektland und mein zukünftiger Einsatzort mitgeteilt wurde, wurde mir bewusst, wie wenig ich selbst über dieses Land wusste: Was für eine Währung haben die denn da? Was für einen Regierungschef? Welche Hauptreligion?

Inzwischen bin ich seit fünf Wochen in Tschechien und wenigstens etwas schlauer: Man zahlt in tschechischen Kronen, der aktuelle Ministerpräsident heißt Petr Nečas und ein Großteil der Bevölkerung gehört keiner Religion an. Außerdem wird mir langsam bewusst, dass ich meine Vorstellungen eines sinnvollen Freiwilligendienstes gerade hier in beispielhafter Weise verwirklichen kann.

Ich bin in drei Projekten tätig, die zusammengenommen die ganze Bandbreite der ASF-Projektarbeit abdecken: Bei den Besuchen, die ich den älteren Mitgliedern der jüdischen Gemeinde hier in Brno abstatte, werde ich immer wieder direkt mit der Vergangenheit konfrontiert. Viele meiner Klienten sprechen Deutsch, und die wenigsten verbinden schöne Erinnerungen damit. So erwähnte eine Dame eher beiläufig in einem Nebensatz, dass sie als Kind zwei Jahre lang im Konzentrationslager Theresienstadt interniert war. Es wurde deutlich, dass sie auf dieses Thema nicht näher eingehen wollte. Scheinbar fehlen ihr noch immer die Worte für das Erlittene. Bei wieder anderen Hausbesuchen habe ich das Gefühl, dass gerade das Reden über die Vergangenheit für die Betroffenen von großer Bedeutung ist. Ich spüre, dass es gut ist zuzuhören und auf diese Weise Leid zu teilen und das Gefühl der Einsamkeit zu verringern.

Bei einem Projekt für Romakinder begegne ich einer Minderheit, der gerade in Tschechien offener Rassismus entgegenschlägt. Der Zugang zu Bildung und Arbeit wird dieser Minderheit systematisch erschwert. Nur wenige Roma schließen eine Schulausbildung ab, die Wohnsituation ist katastrophal, die Arbeitslosigkeit liegt bei bis zu 90%. Das Projekt in Brno, in dem die Kinder ihre Freizeit verbringen und unter Anleitung lernen können, hat Modellcharakter. Schade, dass diesem Beispiel bisher kaum einer folgt.

Dasselbe gilt für das Wohnheim für Menschen mit Behinderung, in dem ich zwei Tage pro Woche verbringe. Acht Menschen leben hier in familiärer Atmosphäre bei ständiger Betreuung durch zwei Assistenten zusammen. Doch diese Art von sozialer Institution ist in Tschechien noch ein Einzelfall. Weitaus üblicher sind die riesigen anonymen Gebäudekomplexe aus der Zeit des Kommunismus, in denen Menschen mit Behinderung untergebracht sind.

Inzwischen sattelfest in Sachen deutsch-tschechischer Geschichte, kamen mir immer mehr Bedenken, wie mein Einsatz von Seiten der Tschechen wahrgenommen werden mag. Immerhin war die deutsch-tschechische Geschichte oftmals eine der gegenseitigen Verletzungen. Ich werde jedoch immer wieder überrascht: Einer älteren Dame kamen die Tränen, als ich ihr von meiner Arbeit erzählte und von Verantwortung für eine friedlichere Zukunft sprach. Wie sich später herausstellte, war ihr Vater im Konzentrationslager ums Leben gekommen.

Ich erlebe auch, dass gerade die junge Generation der Tschechen Deutschland gegenüber sehr aufgeschlossen ist. Schließlich ist Deutschland der wichtigste Handelspartner und deutsche Sprachkenntnisse wirken sich positiv auf die berufliche Karriere aus.

Ja, die tschechische Sprache ist schwer zu erlernen und ja, es gibt schönere Anblicke als den der Plattenbausiedlung, in der ich wohne. Aber es gibt noch viel zu tun, und kleine Erfolge und Dankbarkeit in meinem Arbeitsumfeld erfreuen mich jeden Tag aufs Neue. Außerdem hat das bescheidene Tschechien viel mehr zu bieten, als man vermuten würde: Naturschönheiten und Baudenkmale, Gastfreundschaft und ein brodelndes kulturelles Leben, kulinarische Höhenflüge – und ja, auch das Bier ist hier besonders gut. Insgesamt kann ich sagen, dass ich jetzt an keinem anderen Ort lieber wäre.

Die Aktion Sühnezeichen Friedensdienste ist ein gemeinnütziger Verein und auf Spenden angewiesen. Gerade für die osteuropäischen Länder ist es schwierig, Förderer zu finden. Nähere Informationen finden sie unter www.asf-ev.de

Nur so zur Info: Deutsch-tschechische Geschichte im Schnelldurchgang

Seit über 800 Jahren lebten Deutsche in den Teilen Böhmens und Mährens, die auch als Sudetenland bezeichnet werden. Während seiner Zugehörigkeit zum Kaiserreich Österreich-Ungarn war die deutsche Kultur dominierend. Als nach dem zweiten Weltkrieg die unabhängige Tschechoslowakei gegründet wurde, fühlten sich die Deutschen benachteiligt. Es entstand unter anderem die Sudetendeutsche Partei, die Hitler nahestand und 1938 bei Kommunalwahlen 90% der sudetendeutschen Stimmen erhielt. Wenig später wurde in Abwesenheit der tschechoslowakischen Regierung im Münchner Abkommen beschlossen, die von Sudetendeutschen bewohnten Gebiete ins Deutsche Reich einzugliedern. Infolge dessen wurde auch der Rest der Tschechoslowakischen Republik als „Reichsprotektorat Böhmen-Mähren“ Deutschland einverleibt. Die Besatzungsmächte begingen dabei immer wieder grausame Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung. Nach der Niederlage Deutschlands kam es überall im Land zu gewaltsamen Ausschreitungen gegenüber Deutschen, der sog. „wilden“ Vertreibung. Noch im gleichen Jahr wurde die Enteignung und Ausweisung aller Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit in den Beneš-Dekreten festgelegt. 2002 kritisierte Vaclav Havel die „wilden“ Vertreibungen und erntete dafür heftige Kritik. Bis heute sorgt die Forderung des Vertriebenenverbandes nach Aufhebung der Beneš-Dekrete für kontroverse Diskussionen.

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Meine Kommentare

Lieber Herr Prof. Ehrle,...
Lieber Herr Prof. Ehrle, vielen Dank für ihr fortgesetztes...
evamariawalther2 - 18. Sep, 13:51
https://www.asf-ev.de/de/e inblicke/lebenszeichen-vom -freiwilligendienst/eva-ma ria-walther.html
https://www.asf-ev.de/de/e inblicke/lebenszeichen-vom -freiwilligendienst/eva-ma ria-walther.html
EvaMariaWalther - 10. Jun, 18:30
Nachtrag: Ganze 1 1/2...
Nachtrag: Ganze 1 1/2 Wochen hat meine Fahrsperre gedauert....
EvaMariaWalther - 10. Mär, 23:26
https://www.asf-ev.de/de/e inblicke/lebenszeichen/eva -maria-walther.html
https://www.asf-ev.de/de/e inblicke/lebenszeichen/eva -maria-walther.html
EvaMariaWalther - 10. Mär, 23:21
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EvaMariaWalther - 2. Sep, 22:29

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