Freitag, 3. Dezember 2010

Ein Wochenende

Es gibt eigentlich keinen triftigen Grund, an einem kalten Samstagmorgen mit dem Zug in das kleine Dorf Řehlovice zu fahren. Es sei denn, man will wie wir zum deutsch-tschechischen Kulturbrunch im ortsansässigen Kulturzentrum. Und ganz offensichtlich hat ein Großteil der Zugpassagiere denselben Plan. Kaum sind wir eingestiegen, gibt es ein großes Hallo: Da sind die Freiwilligen aus der Gedenkstätte in Theresienstadt mit ihrem Vorgänger und ihrem Mitbewohner, der in Tschechien Deutsch unterrichtet; da ist die Koordinatorin von ASF und Servitus in Tschechien; die Freiwillige vom deutsch-tschechischen Kulturbüro in Ustí nebst Vorgänger; amerikanische Studenten, die gerade in Prag wohnen und die irgendjemand eingeladen hat sowie diverse aktuelle und ehemalige Aktive aus dem Kultur- und Freiwilligenbetrieb. Man begrüßt sich, man duzt sich, redet Deutsch, Tschechisch und Englisch und freut sich auf das gesellschaftliche Highlight, das einen in dem (laut Website) liebevoll restaurierten Gutshof erwartet.

Tatsächlich gehen in im Gut Řehlovice Verfall und Improvisation eine Verbindung ein, die allerdings, verknüpft mit der romantischen Lage inmitten von verschneiten Feldern, sehr charmant wirkt. Trotz Anmeldung stehen wir nicht auf der Gästeliste; macht nichts, wir dürfen trotzdem rein. Wir betreten einen Raum, der durch ein paar alte Schränke in zwei Hälften geteilt ist: Dahinter stehen Betten, auf denen weit gereiste Kulturfreunde bereits übernachtet haben, davor stehen allerlei Stühle und Sofas sowie ein Podest, das später als Bühne fungieren soll. Im nächsten Raum, einem hohen Backsteingewölbe, sind das Buffet und ein bunt zusammengewürfeltes Sammelsurium aus Tischen und Stühlen aufgebaut. Auf den Treppen findet sich letztendlich doch noch ein Sitzplatz für uns. Das Buffet ist spektakulär: In mindestens vier Gängen wird eine kulinarische Reise in die Vergangenheit des deutsch-tschechischen Grenzgebietes unternommen. Dass es sich dabei nicht gerade um kalorienarme Trennkost handelt, versteht sich von selbst.

Bald ist die Luft erfüllt von Essgeschirrgeklapper und angeregten Gesprächen. Man kennt sich, war schön öfter an diesem wunderbaren Ort, reist überhaupt gerne ins ländliche Böhmen, wo die Zeit stehen geblieben zu sein scheint und die Uhren langsamer ticken. Kultur gibt es natürlich auch: Ein Schulorchester aus der Region darf sich auf der Bühne erproben, später wird auf Deutsch und Tschechisch über Beziehung zwischen Kunst und Zeitgeist diskutiert. Ein hochbrisantes Thema; noch etwas mehr interessiert mich allerdings zugegebenermaßen das Kuchenbuffet, das inzwischen aufgetragen wird. Und natürlich die Unterhaltung mit meiner direkten Vorgängerin in der Projektarbeit in Brno, Silvia. Es ist schon seltsam, wie dieselben, uns vorher unbekannten Menschen, durch den Freiwilligendienst ein fester Bestandteil unser beider Leben geworden sind. Außerdem ist es erleichternd, zu erfahren, dass auch sie Machtkämpfe mit Dusan aus dem Wohnheim ausstehen musste und Frau R. aus dem Altenheim nicht nur bei meinen Besuchen nach 15 Minuten einschläft.

Als wir uns endlich auf den Weg nach Prag machen, ist es schon dunkel. Es ist Samstagabend und wir fahren noch nicht zurück nach Brno. Wir sind eingeladen in eine internationale WG nahe der Prager Burg. Ein Programmierer aus Italien wohnt hier, zwei Studenten aus Frankreich und Wales und zwei deutsche Freiwillige, von denen eine, Tine, heute Geburtstag hat. Die nach und nach herbeiströmenden Partygäste bekommen allesamt erst mal ein Bier in die Hand gedrückt und verteilen sich in der ganzen (beneidenswert großen und modernen) Wohnung. Chloé, die französische Mitbewohnerin, erklärt als erstes ihre 10-Kronen-Regel: Wer nicht dieses Bußgeld zahlen will, muss darauf achten, in Anwesenheit Nicht-Deutscher ausschließlich Englisch (oder Tschechisch ;)) zu reden. Fast immer also. Denn die Festgemeinschaft ist eine bunte Mischung aus Freiwilligen und Studenten aus allen vier Himmelsrichtungen. Gesprächsthemen sind schnell gefunden: Tschechien, Prag, die jeweiligen Herkunftsländer, die Arbeit, die immer gleichen Probleme: Zu viel Arbeit, zu wenig Arbeit, die tschechische Sprache. Nie vergisst man, sein Gegenüber herzlich einzuladen, in der heimlichen Hoffnung, ebenfalls ein Dach über dem Kopf angeboten zu bekommen.

In der Küche werden Berge von Spagetti mit Fertigbolognese fabriziert. Nicht, dass ich noch Hunger hätte… aber was solls. Inzwischen ist man auf Wein und Sekt umgestiegen, die Stimmung wird ausgelassener. Auch bei der Gastgeberin, die jetzt ihre Geschenke auspackt. Darunter ist auch ein Notizbuch, das bisher nur den Titel von Tine´s zukünftigem Bestseller enthält: „European Mojito“, eine Vergleichsstudie, in der sie die besten Cocktailbars auf dem ganzen Kontinent ausfindig machen will. Sie hat bereits mit den Recherchen begonnen. Nach einiger Zeit gibt sie dem allgemeinen Drängen nach und hält eine feierliche Ansprache: „ I appreciate your coming. Thanks for turning this evening into something special. We will rule the world!!“ Begeisterter Beifall der Anwesenden. Remo, einer der Theresienstadtfreiwilligen, stellt sachlich fest: “Es sind 11 Nationalitäten da heut Abend.” Ungläubige Gesichter. Mal nachzählen: Tschechien, Kanada, Bulgarien, Frankreich, Großbritannien, USA, Rumänien, Schweden, Österreich, Italien, Türkei, Deutschland. Tatsächlich.

Die Deutschen, obwohl deutlich in der Überzahl, haben es längst aufgegeben, zu Deutsch zu wechseln - auch wenn sie unter sich sind. Dann gibt es auch noch Apple-Crumbles und dreierlei Schokokuchen und ich überlege mir, wie gut sich so viele unterschiedliche Kulturen beim Thema Essen verstehen. Um 22.00 zieht die gesamte Festgemeinschaft aus. Nachtruhe in der Altbauwohnung! Nicht aber im Club „Akropolis“, wo noch einiges an pivo und mojito fließen wird.

Der nächste Tag beginnt spät und mit kollektivem Herumgammeln. Dazu gibt es genügend Möglichkeit in der Wohnung, die sich über Nacht in ein Matratzenlager verwandelt hat . Gespräche über die EU (Yannick prophezeit ihr ein langes Leben, währned Linnea schon ihren Untergang nahen sieht) und darüber, was „verarschen“ auf verschiedenen Sprachen heißt. Dazu werden die Reste vom Vortag gegessen. Das Leben kommt mir gar nicht hart vor. Und Mutikulti kann gar nicht so tot sein.

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Lieber Herr Prof. Ehrle,...
Lieber Herr Prof. Ehrle, vielen Dank für ihr fortgesetztes...
evamariawalther2 - 18. Sep, 13:51
https://www.asf-ev.de/de/e inblicke/lebenszeichen-vom -freiwilligendienst/eva-ma ria-walther.html
https://www.asf-ev.de/de/e inblicke/lebenszeichen-vom -freiwilligendienst/eva-ma ria-walther.html
EvaMariaWalther - 10. Jun, 18:30
Nachtrag: Ganze 1 1/2...
Nachtrag: Ganze 1 1/2 Wochen hat meine Fahrsperre gedauert....
EvaMariaWalther - 10. Mär, 23:26
https://www.asf-ev.de/de/e inblicke/lebenszeichen/eva -maria-walther.html
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EvaMariaWalther - 10. Mär, 23:21
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EvaMariaWalther - 2. Sep, 22:29

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