Sonntag, 2. Oktober 2011

Die Woche der LETZTEN MALE

Sonntag: Zum letzten Mal mit allen Tschechien-ASF-Freiwilligen zusammen. Das letzte Seminar im Gutshof und Kulturzentrum Rehlovice haben alle noch einmal sehr genossen. Wann und wo auch immer wir 8 (bzw.6) Originale im Verlaufe des Jahres aufeinander gestoßen sind – es war immer sehr lustig!

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Montag: Zum letzten Mal Tschechischunterricht bei Tereza. Wie sie sich freut, als ich ihr erzähle, dass ich Slavistik als Nebenfach studieren werde! Ich fühle mich auf jeden Fall schon ganz gut vorbereitet… Später letztes Mittagessen mit p. Spunarová, die sich heute ungewohnt herzlich zeigt.

Dienstag: Zum letzten Mal Tandem mit Lída. Mir verschlägt es total die Sprache, als mir bewusst wird, dass das das allerletzte jener Treffen war, die für mich viel mehr waren als nur Sprechnachhilfe. Nämlich Geschichtsunterricht, Therapiesitzung, politische Diskussionsrunde, Lyrikzirkel, kulinarische Sternstunde, Satiregipfel, Literaturrunde, Seminar „Tschechien und Tschechen verstehen für Anfänger“ und in so mancher arbeitsreicher oder stinklangweiliger Woche ein echter Lichtblick.

Donnerstag: Letzter Besuch beim Ehepaar Fiala. Zum Abschied wünschen sie mir nur eins: Dass ich einen braven, netten Mann finde.... Ich wünsche den beiden nur eines: Dass sie noch lange und möglichst gesund ihrer Video- und Schallplattenleidenschaft frönen können!

Freitag: Zum letzten Mal mit p. Matiovská und p. Obrsliková unterwegs. Zur Feier des Tages führe ich die beiden zum Mittagessen aus. Heute kommt mir sogar ihr ständiges Gekabbel und Gezerfel liebenswert vor.

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Abends zum letzten Mal beim Shabbatgebet in der jüdischen Gemeinde. Just heute begegnen wir dort zum ersten Mal Menschen in unserem Alter! Warum nur…

Samstag: Letztes Treffen mit unseren Freunden Lukás und Familie, Jana und Martina. Sie alle sind zu unserer Abschiedsparty in unsere Wohnung gekommen. Außerdem der junge Slovake, den wir gestern in der jüdischen Gemeinde kennen gelernt haben und der jetzt mit seiner Gitarre spontan für die musikalische Untermalung dieses sehr schönen Abends sorgt.

Sonntag: Letzter Gottesdienst in der englischsprachigen Gemeinde. Außerdem erster und letzter Ausflug mit Teresas Kollegen aus der Effeta. Wir wandern von Lednice nach Valtice und nehmen an einer Weinprobe teil. Danach Abschied von selbigen Kollegen.

Montag: Zum letzten Mal besuchen wir unsere Kultstätten: das Teehaus, das Café Trojka, den Desert Music Club. Irgendwie kann ich es noch gar nicht fassen, dass Teresa mich morgen auch schon verlässt. Sie wird zwar lange nicht so weit entfernt sein wie die anderen, von denen ich mich diese Woche schon verabschiedet habe. Aber sie wird zukünftig einfach nicht mehr im Zimmer nebenan sein, wenn man dringend jemanden zum reden braucht. Auch unser gemeinsames Ausgehen, unsere spontanen Ausflüge wird es vorerst nicht mehr geben. Ich kann mir im Moment gar nicht vorstellen, dass ich mich daran je gewöhnen werde…

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Dienstag: Zum letzten Mal in der Wohnung. Die Tür ins Schloss fallen lassen, schnell umdrehen und gehen. Für die letzte Nacht ziehe ich ins Betreute Wohnen.

Mittwoch: Zum allerallerletzten Mal Dienst bei meinen Lieblingsklienten und –assistenten. Offiziell haben wir uns schon auf meiner Abschiedsfeier am Donnerstag verabschiedet. Wir haben am Stausee gepicknickt und es gab Geschenke für jeden.

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Einigen Klienten habe ich sogar schon vor den Ferien Lebewohl gesagt, weil nicht sicher war, ob wir uns noch einmal sehen. Es ist ein Abschied auf Raten, und genau das macht es so anstrengend. Natürlich will man jeden Abschied mit der ihm gebührenden Sentimentalität begehen. Schließlich sind mir all diese Menschen wichtig gewesen und ich werde sie alle vermissen. Das Mindeste, was man ihnen zuletzt an Respekt und Dank zollen sollte, ist ein tränenreicher Abschied. Aber nach über einer Woche im Zustand der Dauermelancholie bin ich körperlich wie psychisch am Ende einer Kräfte. Meistens ist man in diesen Abschiedsmomenten so davon in Anspruch genommen, den richtigen Eindruck zu vermitteln, die richtigen Worte zu sagen (die es in der Form meistens gar nicht gibt), dass man den Verlust in seiner ganzen Tragweite noch gar nicht zu fassen vermag. So macht sich in mir Erleichterung breit, dass sich der Marathon der LETZTEN MALE nun langsam einem Ende nähert. Dennoch bin ich froh, dass ich meinen letzten Abend hier im Kreise lieber Menschen beim tschechischen Nationalgericht vepro-knedlo-zelo und nicht etwa allein zu Hause verbringe.

Donnerstag: Abschied von Brünn und von den tschechischen Zügen. Ich strecke den Kopf aus dem Fenster und lasse mir den Wind durch die Nase und den Kopf pusten, bis der Petrov schon lange aus meinem Sichtfeld verschwunden ist.

Und, Eva, wie war´s in Tschechien?

Hody - Kerwevergnügen in Žebětin

Ich treffe recht spät ein, die Party ist schon in vollem Gange. Jana begrüßt mich überschwänglich und mit Umarmung, das ist sonst gar nicht so ihre Art. Aber heute ist Jana sichtlich gelöst, geradezu aufgedreht, genau wie alle anderen Besucher des gut gefüllten Jugendzentrums auch. Schließlich ist heute kein gewöhnlicher Tag. Heute sind die Hody in Žebětin, einem Stadtteil am Rande von Brno. Hody nennt man in Mähren die Kirchweih oder Kirmes, und die wird in diesen Breiten so laut und bunt gefeiert wie sonst nirgendwo. Und die Hody in Žebětin sind natürlich die besten. Das behaupten alle, die dieses gesellschaftliche Highlight schon mindestens einmal miterleben durften. Bereits Monate zuvor wurde ich eingeladen, und nach stundenlanden Vorschwärmen stand für mich auch bald fest, dass ich mir dieses Event auf keinen Fall entgehen lassen konnte.

Wir müssen nicht lange warten, da kommt auch schon David. Der sieht leider schon nicht mehr allzu frisch aus, was damit zusammenhängen könnte, dass die Feierlichkeiten schon gestern abend begonnen haben... Dabei hat David eine sehr wichtige Aufgabe; er spielt heute abend sozusagen den Mundschenk. Mit einer Fünf-Liter-Pulle billigen Weißweins und einem einzigen Glas läuft der durch den Raum. Wer etwas trinken möchte, dem macht er das Glas voll, und nicht selten schließt er sich aus Solidarität gleich an. Die Gläser sind recht klein, doch Achtung: Sie summieren sich im Laufe des Abends doch schneller, als man denkt! Zumal eine ganze Horde solcher Sommeliere im signifikanten weißen Leinenanzug herumrennen.

Da beginnt schon die erste Tanzdarbietung. An die dreißig Tanzpaare, die „stárky“, betreten das Tanzparkett in der Turnhalle, und mir fällt direkt mal die Kinnlade herunter: Alle stecken in einer traditionellen Tracht, die Mädels mit XXL-Puffärmeln und XXL-Reifröcken, die Jungs mit witzigen bunten Hüten auf dem Kopf.

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Die sind alle geliehen, erklärt Jana, leisten könne sich die aufwendig bestickten Gewänder niemand. Dann stimmt die Kapelle einen zünftigen Marsch an, die stárky stellen sich in kleinen Gruppen auf und beginnen zu tanzen, und zwar genauso, wie auf den Hody in Mähren schon seit vielen, vielen Jahren getanzt wird. Da wird im Kreis herum gewirbelt und immer wieder auf raffinierte Art und Weise der Tanzpartner gewechselt. Hier hat jeder Tanz, ja fast jeder Schritt seine Geschichte und Bedeutung. Was mich aber völlig überwältigt, ist die Tatsache, dass keiner der Protagonisten, weder unter den Tänzern, noch in der Blaskapelle, älter ist als 30 Jahre.

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In Deutschland sucht man eine solche Selbstverständlichkeit und Begeisterung bei Traditionspflege außerhalb Bayerns wohl vergeblich. Nach jedem Tanz stoßen alle Mädchen hohe, trillernde Töne aus, die sogenannten Juchzer. Am Ende der Tanzrunde folgt eine Art Sprechgesang: Einer ruft eine Frage in den Raum, die anderen antworten im Chor. Zum Glück sitzt die kompetente Eingeweihte Jana direkt neben mir und entschlüsselt das für mich rätselhafte Verhalten. Die Fragen sind jedes Jahr gleich und die Antworten einstudiert. Sie lauten „Wessen Hody sind das? – Unsere! Wessen stárky? – Unsere! Wie sind Schulden? – Sorgenvoll!“ Es folgt die Frage nach der Höhe des Baumes, der als Schmuck auf dem Marktplatz wie bei uns ein Maibaum aufgestellt wurde (25 Meter!) und nach den Namen des Hody-Prinzenpaares (Martin! Und Hana!), dann wird noch mal gejuchzt und die Tanzfläche für alle freigegeben.

Wer will kann jetzt Polka und dergleichen tanzen. Manchmal stellen sich auch alle im Kreis auf und singen Lieder, die irgendwie jeder kennt. Ein junger Mann sticht aus der Menge hervor: Er ist mindestens zwei Meter groß, hat Muskeln wie ein Actionheld und auch ungefähr das gleiche Mienenspiel. Ich frage Jana, ob sie ihn kennt. „Ja, natürlich... Der ist ein bisschen... seltsam. Er hat ein Hakenkreuz auf die Brust tätowiert!“

Da erzählt mir Jana leider nichts Neues. Rückblende: Gleicher Ort, drei Wochen zuvor. David hat uns zur allsamstäglichen Party im Jugendzentrum eingeladen, gerade haben noch die stárky für den großen Auftritt geprobt. Bald fließt das Bier in für Tschechien üblichen Mengen, die Leute spielen in der Turnhalle mit den großen Matten und dem Trampolin und tanzen drum herum.

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Der Hüne immer vorne mit dabei. Als ich das halb verdeckte Tatoo sehe, will ich meinen Augen kaum trauen, glaube an einen Irrtum. Ich frage nach. Das war ein Fehler. Bald schon muss ich mir eine Lobeshymne auf das deutsche Volk anhören, dass allen anderen, vor allem natürlich dem tschechischen, weit überlegen sei. Er selbst habe deutsche Wurzeln. Deutsch sprechen könne er freilich nicht. Er bemerkt mein Entsetzen und betont gleich, rassistisch sei er auch nicht, zumindest nicht Schwarzen oder Asiaten gegenüber. Mit den Zigeunern sei das natürlich etwas anderes. Was folgt ist die oft gehörte Leier von den faulen, dreckigen, kriminellen Roma. Mir fehlen zwar nicht die Argumente, wohl aber die Worte, zumal auf Tschechisch. In meiner Verzweiflung und aufkeimenden Wut im Bauch versuche ich es stattdessen mit einem bitterbösen skeptischen Blick. Zu meiner großen Überraschung funktioniert das; Mr Hakenkreuz will sich unbedingt erklären und redet sich dabei an die Wand. Er sei eigentlich schon gar nicht mehr so krass drauf wie früher. Als er sich das Tatoo stechen ließ, sei er noch jung und dumm gewesen. Und überhaupt sei das Hakenkreuz für ihn vor allem ein Symbol für den Kreislauf des Lebens. Aber mein Vorschlag, sich doch mal genauer mit Roma zu beschäftigen, vielleicht sogar mal mit einem zu reden, die seien nicht so schlimm, wie er denke, geht ihm dann doch zu weit. Mit einem Kopfschütteln wendet er sich ab. Ich atme erleichtert auf, aber der Abend ist mir verdorben.

Zurück auf den Hody. Auf dem Weg von der Toilette steht mir der Bodybuilder plötzlich im Weg. Wir stehen allein auf dem Flur, der Zugang zum Saal ist mir versperrt. Er lächelt nicht, schaut mich mit einem durchbohrenden Blick an. Dann nimmt er seine Weinflasche, schenkt ein Glas ein und streckt es mir hin. Ich zögere. Die Gedanken, die mir in genau diesem Moment duch den Kopf gehen, kommen mir im Nachhinein selbst ziemlich albern vor. Letztendlich habe ich das Glas ausgetrunken und auch gut vertragen. Diese Begegnung zu verarbeiten dauert ein wenig länger. Wollte er mich einschüchtern? Oder war es eine Versöhnungsgeste? Fest steht nur: Man sollte wirklich niemandem mit Vorurteilen begegnen, noch nicht einmal angeblichen Neonazis. Zumindest an einem so besonderen Tag wie heute.

Urlaub in Rumänien - Szenen aus einem faszinierenden Land

Rumänien und die Taxifahrer. Es ist ja nicht so, als wären wir nicht gewarnt gewesen. Seitenlang wird das Thema in allen Reiseführern behandelt und ausdrücklich zu besonderer Vorsicht gemahnt. Allzu leicht kann man als Tourist in einem fremden Land übers Ohr gehauen werden, und dann bezahlt man schon mal ein Vielfaches des eigentlichen Fahrpreises! Wagemut oder Naivität – kaum angekommen am Bahnhof von Timisoara, steuern wir auch schon zielstrebig den Taxistand an. Wir sind ganz stolz, dass wir dem Fahrer irgendwie kommunizieren können, wohin die Fahrt gehen soll, und los geht’s über die Straßen und Plätze der westrumänischen Großstadt. Bis der Wagen plötzlich hält. Sind wir schon da? Nein. Der Fahrer steigt aus und versucht uns wild gestikulierend zu erklären, dass die Straßennummer, die wir ihm auf einem kleinen Zettel unter die Nase gehalten haben, nicht existiert. Er schimpft, er zuckt die Achseln, er rauft sich die Haare – das Taximeter läuft weiter. Kein Mensch weiß, was passiert wäre, wäre nicht in just diesem Moment Radu aufgetaucht, unser Couchsurfinghost. Er erteilt dem Taxifahrer einen Anschiss, bezahlt die Fahrt und lotst uns zur richtigen Hausnummer, die eigentlich direkt an der Straße liegt. Zuerst zeigt der 29-jährige Programmierer uns seine Wohnung. Seine herzliche Gastfreundlichkeit lassen uns den etwas herben Empfang in Rumänien schnell vergessen: Wir dürfen das gesamte Wohnzimmer besetzen (kein Wunder, wir sind ja auch zu fünft) und sogar Stadtpläne hat K. für uns ausgeruckt. Dann muss er schnell wieder zur Arbeit, die er extra geschwänzt hat, nur um uns in Empfang zu nehmen. Wir machen uns also auf in Richtung Stadt. Timosoara gefällt: Rings um die Altstadt liegt ein Fluss und ein großzügiger Park. Im Stadtzentrum spielt sich das Leben hauptsächlich auf den drei großen Plätzen ab. Es gibt prunkvolle Barockhäuser à la Habsburgermonarchie, eine Synagoge und natürlich auch schon den christlich-orthodoxen Stil. Meine erste orthodoxe Kirche lässt mich beim Betreten laut Luft holen: So eindrucksvoll wirkt der dunkle, ruhige Kircheninnenraum mit seinen goldstahlenden Ikonen auf mich. Ein roter Teppich führt zu einem kleinen Marienbildnis, das permanent von Gläubigen geküsst wird. Die Menschen bekreuzigen sich auch auf der Straße, wenn sie an dem Gotteshaus auch nur vorbei gehen. Im gegenüber gelegenen McDonalds lernen wir gleich noch eine andere Seite Rumäniens kennen: Ein kleiner Romajunge (höchstens fünf Jahre) bettelt um Geld oder Essen.

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Abends treffen wir uns mit Radu in einem Restaurant, das direkt am Fluss gelegen ist. Wir lernen das vielleicht beste rumänische Bier, Timisoareana, sowie Radus Freunde kennen. Und Radu hat viele Freunde. Irgendwie fast alle, die im Laufe des Abends in den Biergarten treten, werden sofort an unseren Tisch gewinkt. Bald sind wir von einem Dutzend rumänischer Informatiker umringt. Unser Reiseplan weckt Erstaunen: „Fünf Mädchen reisen ganz allein quer durch Rumänien? Ob wir keine Angst hätten? Nein, sollten wir? Soweit fühlen wir uns wohl in Rumänien. Sehr sogar.

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Wir schlendern im schönsten August-Sonnenschein durch Sibiu, ehemalige Hauptstadt der in Rumänien lebenden Deutschen, der sogenannten Sachsen. Die Stadt ist ein Schmuckkästchen-herrschaftlich-barocke Stadthäuser mischen sich mit einer charmanten Heruntergekommenheit.

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In der Altstadt findet just an diesem Tag ein Folklorefestival statt. Die Straßen sind vollgestopft von Mädchen in rauschenden Tanzröcken, Jungs mit kecken Hüten auf dem Kopf, Musikanten mit Blechblasinstrumenten, Geigen, Akkordeons und Instrumenten, die ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen habe. Die Gruppen kommen aus unterschiedlichen Teilen Rumäniens und aus der ganzen Welt. Fasziniert betrachte ich die jungen, aufgeregt plappernden Traditionsliebhaber: Keine zwei Trachten gleichen einander, aber alle verstehen es, das physische Kapital ihres Trägers gekonnt in Szene zu setzen. So anders als der Diskobesuch war das Dorffest damals auch nicht. Man amüsiert sich und sucht Anschluss, wobei das Äußere eindeutige Signale versendet.

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Schließlich setzt sich die Prozession in Bewegung, die Mitwirkenden bewegen sich tanzend und musizierend zum Marktplatz. Dort ist eine große Bühne aufgebaut, außerdem Scheinwerfer, Kabel, Kameras, Übertragungswagen- Wir sind Zeugen eines kulturellen Höhepunktes. Der Platz wimmelt von Menschen aller Altersgruppen. Die schlanke und sympathische Brünette, die durch den Abend führt, begrüßt alle Gäste wie alte Bekannte. Die langjährige Leiterin einer der auftretenden Tanzkreise feiert just heute Abend ihren achtzigsten Geburtstag. Es wird gesungen und eine feuerwerksgeschmückte Torte überreicht, woraufhin die Jubilantin, den Tränen nahe, eine bewegende Ansprache hält. Dann fasst sie ihr Tanzpartner bei der Hand, und die Tanzoma verlässt, sich beständig um die eigene Achse drehend, die Bühne. Der Rock wippt lustig mit.

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Die Bremsen quietschen, und langsam und ruckelnd kommt der alte Zug zum stehen. Jetzt gilt es nur noch, mit den schweren Reiserucksäcken den ca. einen Meter bemessenden Höhenunterschied zum Bahnsteig zu überwinden, und schon sind wir da: In Copsa Mica, laut Lonely Planet der hässlichsten Stadt Rumäniens. Diesem zynischen und gemeinen Urteil kann man bei näherem Hinsehen --- nur beipflichten.

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Warum wollen wir dennoch an diesen unheimlichen Ort??? Wollen wir ja gar nicht. Unser eigentliches Ziel ist ein kleines Dorf in der Nähe, in dem der Vater von meiner Mitreisenden Juli geboren wurde. Zunächst steht es schlecht um unser Vorhaben: Der Ort ist weder mit dem Zug noch mit dem Bus zu erreichen. Zum Glück hilft die Frau am Ticketschalter weiter: Sie bestellt uns ein Taxi. Wir warten auf dem staubigen Bahnhofsvorplatz mitten den streunenden Hunden, Annika: Vielleicht hätten wir sagen sollen, dass wir zu fünft sind? Da kommt auch schon unser Taxi.

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Der Fahrer steigt aus. Er sieht die fünf Mädchen. Er sieht die fünf schweren Reiserucksäcke. Er sieht seinen Wagen. Es ist ein Opel Corsa. Er legt die Stirn in Falten. Er kratzt sich am Kopf. Dann muss er plötzlich lachen: „Okay, we can try!“ Fünf Minuten vorsichtigen Herumhantierens und etliche Lachtränen später haben tatsächlich alle Passagiere und Gepäckstücke Platz gefunden.

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So kurven wir denn durch Siebenbürgen und sind wenige Minuten später in Valea Viilor, oder zu Deutsch: Wurmloch. Ob Einstein sich das wohl so vorgestellt hat? Eingebettet in die malerischste Landschaft, besteht das Dorf hauptsächlich aus einer großen Straße, auf der ab und zu der der ein oder andere Pferdewagen fährt. Den Mittelpunkt bildet eine große Kirchenburg, eine geniale Erfindung der Siebenbürgen: In einem solchen Gebäude kann man nicht nur Gottesdienst feiern, sondern auch im Angriffsfalle das ganze Dorf verschanzen.

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Hier haben nun also Julis Großeltern nun also einen großen Teil ihres Lebens verbracht. Ein Jahr nach der Geburt von Julis Vater wanderten sie nach Deutschland aus. Die alte Frau, die Besucher in die Kirchenburg einlässt, kennt sie noch persönlich. Sie weiß auch, wo sie wohnten, wer daneben wohnte, wer mit wem verwandt oder verschwägert war und wohin sie später alle auswanderten. Heute zählt die deutsche protestantische Gemeinde im Ort noch genau fünf Mitglieder, der nächste Gottesdienst ist für Weihnachten anberaumt. Seit die Kirchenburg zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört, hat die Frau ein schweres Leben. Stundenlang beaufsichtigt sie täglich die Kirche und das kleine Museum, und wenn nach Ende der Öffnungszeiten weitgereiste Touristen vor verschlossenen Türen stehen, finden sie dort ihre Nummer. Dann schwingt sie sich aufs Rad und schließt noch mal auf. Wenigstens trägt sie dadurch dazu bei, dass ihr kulturelles Erbe nicht verloren geht. Während unser Privatshuttle uns bald aus der dörflichen Idylle des Wurmlochs wieder zu den Fossilien der Industrialisierung in Copsa Mica katapultiert.
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„Geht lieber nicht nach Bukarest. Da gibt es doch nichts zu sehen. Nur alle, die es in Rumänien nirgendwo zu etwas gebracht haben, tummeln sich irgendwann in der Hauptstadt.“ So hatten uns Radus Freunde noch wenige Tage zuvor gewarnt. Dennoch haben wir Bukarest nicht von unserem Reiseplan gestrichen – zum einen, weil es hier einen Flughafen gibt und zwei Mitreisende sich leider schon verabschieden müssen. Außerdem ist die Hauptstadt eines Landes fast immer interessant. Bukarest fasziniert durch seine Hässlichkeit. Sein Verfall ist nicht charmant wie an so vielen anderen Ecken Rumäniens, sondern wirklich abstoßend. Von den ohnehin schon nicht gerade pittoresken Plattenbauten bröckelt der Putz, aus den Hinterhöfen stinkt es nach den streunenden Hunden, die dort nach Essen suchen, Plätze sind von Tauben- und Parks von Entendreck übersät. Es gibt Strommasten, die sich vor Kabeln biegen, deren Enden völlig ungesichert in die Luft ragen.

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Es gibt Straßenschluchten, so tief, dass einem am Grunde das Atmen schwer fällt. Es gibt Straßenkreuzungen, so groß wie viele Fußballfelder, was die Orientierung als Fußgänger erheblich erschwert. Nichts passt zusammen: Hier versucht sich Bukarest groß und weltgewand, mit Hochglanzläden und Coffeeshops und großformatigen Werbetafeln an den Hauswänden, in einer Seitenstraße versteckt sich hinter Geröll und Bauschutt eine uralte orthodoxe Kirche. In der historischen Altstadt ist alles Authentische von einer dicken Schicht Touristenkitsch und überteuerten Ausgehlokalen überdeckt. Die Taxifahrer sind hier aufdringlicher als sonst wo, und sie verlangen horrende Preise für die kürzesten Wege. Wer sich nicht auskennt, ist aufgeschmissen. Aber am beängstigendsten ist vielleicht der Teil der Stadt, den der egomanische kommunistische Führer des Landes, Ceausescu, ersonnen hat. Ganze Viertel, darunter auch das jüdische, wurden dem Erdboden gleichgemacht, um dem Diktator eine Wohnstadt nach seinem Geschmack zu ermöglichen. Mit 5100 Zimmern und einer eigens errichteten Allee mitsamt angrenzenden Prachtbauten, die auf das monströse Gebilde hinführen.

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Als Stein gewordener Größenwahnsinn steht der Palast auch heute noch mitten in der Stadt und löst bei der Bevölkerung die unterschiedlichsten Gefühle aus, wird, je nach Standpunkt des Betrachters als ungeliebte Erinnerung an die Jahre der Unfreiheit oder als Beweis der Leistungsfähigkeit des Sozialismus angesehen. Schön ist er auf jeden Fall nicht. Aber es ist ein offenes Geheimnis, dass auch extreme Hässlichkeit als anziehend empfunden werden kann. In Bukarest ist dies der Fall. Die Stadt wirkt in all ihrer Schäbigkeit und mit ihren Ungereimtheiten fast surreal. Das stimuliert die Fantasie beim schlendern durch Straßen und über Plätze. Leicht lässt sich ausmalen, jede Ecke, jedes halbzerfallene Gebäude hätte eine Geschichte, eine spannende, voller Absurditäten und unvorhergesehener Wendungen. Bukarest ist ein Stadt zum fabulieren. Zum Wohnen eher weniger.

Und wieder die Taxifahrer. Kaum treten wir aus dem Bahnhof in Constanta, schon heften sie sich uns an die Fersen. Sie wollen partout nicht locker lassen. Wir aber haben aus bisherigen Erfahrungen gelernt und preschen direkt auf ein Maxitaxi zu. Maxitaxis sind Minibusse, die nach Bedarf an bestimmten Haltestellen stoppen, die Nummer 23 fährt zu unserem Campingplatz. Steht zumindest im Reiseführer. „Mamaia?“, fragt der Fahrer nur durch die geöffnete Fahrzeugtür, wir nicken, ja, in diesen Urlaubsvorort von Constanta wollen wir, und schwupp! Schon sind wir drin. Erst als wir sitzen, kommt uns die Idee, man hätte ja mal fragen können, ob der auch tatsächlich an unserem Campingplatz hält… Jetzt ist es zu spät. Was aber noch weitaus beunruhigender ist, ist die Anzahl an Menschen, die jetzt noch zusteigen. An jeder Station werden es mehr, bald schon ist jede Bewegung unmöglich geworden. Selbst wenn wir im richtigen Fahrzeug sitzen würden, hätten also keinerlei Chance, auch auszusteigen. Abgesehen davon, dass wir die richtige Haltestelle gar nicht erkennen würden. Das Maxitaxi fährt und fährt. Irgendwann werden wir unruhig und fragen unsere Mitreisenden, ob wir auf dem richtigen Weg sind. Da kommt Bewegung in die zusammengepferchte Menschenmasse. Englisch scheint niemand zu sprechen und den Campingplatz scheint auch niemand zu kennen. Aber der Zettel mit der Adresse wird herumgereicht und interessiert gelesen, es wird wild diskutiert und bald ist der ganze Bus in die Debatte verwickelt. Wir fahren an einem Campingplatz vorbei, „der könnte es gewesen sein…“ sage ich. Schon zu spät. Der war es auch wirklich, bestätigt uns später der Busfahrer. Der Name, der im Reiseführer angegeben war, steht nur ganz klein auf einem Schild und die Haltestelle heißt anders. „Macht nichts“, sagt zum Glück der sympathische Busfahrer, auf dem Rückweg nach Constanta kommen wir wieder am selben Punkt vorbei. Jetzt nimmt die Zahl der Fahrgäste auf einmal sehr schnell ab. Die wenigen, die noch zusteigen, beginnen einen Plausch mit dem Fahrer und bekommen gleich die sensationelle Story von den drei deutschen Mädchen zu hören, die es schaffen, sich zwischen Constanta und Mamaia zu verfahren, und beäugen uns neugierig. Wir verstehen immer nur „germana“ und den Namen des Campingplatzes. Eigentlich ganz witzig, Tagesgespräch zu sein. Die Sonne geht inzwischen schon unter. Wir parken an der Endhaltestelle, der Fahrer macht eine Raucherpause. Seine Tochter oder Freundin oder auch eine völlig fremde Person ist auch noch da und unterhält sich ein wenig mit uns. Etwa eine Stunde später und in stockfinsterer Nacht sind wir endlich an unserem Ziel angelangt. Das Meeresrauschen am nächtlichen Strand entschädigt allerdings für einiges.

Vama Vecche ist der optimale Zielpunkt einer anstrengenden Reise. Er ist vielleicht überhaupt der beste Platz zum Entspannen, den der kleine Küstenort gilt seit langem als gechilltester in ganz Rumänien. Früher tummelten sich hier Hippies und Nudisten, und noch heute weht ein alternativer Wind durch die drei Straßen des kleinen Urlaubsdorfes. In der Einkaufsstraße kann man sich Henna-Tatoos malen oder Haarstähnen mit Wollfaden umwickeln lassen, zu kaufen gibt es Stoffsäcke, türkische Hosen und fair gehandelte Klamotten aus aller Welt. Über alledem schwebt der leichte Duft von Joints, der sich nie so ganz verliert. Kaum sind wir angekommen, da kommt schon ein leicht ergrauter Mann auf uns zu und bietet uns einen Campingplatz für 20 Lei (5 Euro) pro Nacht an. Wir folgen ihm etwa 200 Meter die Straße entlang und biegen nach rechts in den „Campingplatz“ ein, der sich als ausgedehnter Garten hinter seinem Wohnhaus entpuppt. Rechts wachsen Rosen, Apfelbäume und Weinstöcke, rechts ist eine Rasenfläche, auf der das junge Völkchen seine Zelte aufschlagen kann.

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Eine Dusche und ein Plumpsklo gibt es auch, alles sehr improvisiert, aber das Wasser ist solargeheizt! Alles in allem eine für diesen Preis sehr stilechte Unterkunft. Der Strand ist auch nur fünf Minuten Fußmarsch entfernt. Bei einem Bummel am Sandstrand entlang begegnet man auch einer ganzen Menge sehr gechillter Menschen, die tatsächlich direkt am Meer zelten, keine zehn Meter von der Brandung entfernt. Bei stürmischem Wetter eine recht nasse Angelegenheit… Wir vertreiben uns mit lesen und Karten spielen die Zeit. Am nächsten Tag scheint wieder die Sonne. Da ist der Strand ganz von Handtüchern uns sonnengebräunten Leibern übersät.

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Wem das zu ungechillt ist, der kann ins ebenfalls nur einen Fußmarsch weit entfernte Bulgarien ausweichen, wo es kilometerlange unbewachte Naturstrände gibt.

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Abends wird gechillt gefeiert: Dann reiht sich am Strand eine Bar an die andere, wobei die meisten gleichzeitig als Open-Air-Klub fungieren. Mindestens in jedem zweiten kommt Livemusik, aus den restlichen tönt nonstop gute Musik: Succer Love, Californication, Song Two. Man kann sich ruhig an einer Bar sein obligatorisches Timisoareana kaufen, dort ein wenig bleiben und, wenn einem danach ist, samt Bier ein Haus weiterziehen, hier ein wenig tanzen, dort noch ein Bier, hier auf dem Spielplatz ein wenig schaukeln und wippen.

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Und den Gedanken am Besten gaaanz weit wegschieben, das der schöne Urlaub schon bald vorbei ist und man sich von Rumänien verabschieden muss.

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EvaMariaWalther - 10. Jun, 18:30
Nachtrag: Ganze 1 1/2...
Nachtrag: Ganze 1 1/2 Wochen hat meine Fahrsperre gedauert....
EvaMariaWalther - 10. Mär, 23:26
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EvaMariaWalther - 10. Mär, 23:21
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