Samstag, 18. Juni 2011

Va, pensiero

Duschen, Haare waschen, Deo, Zähne putzen, Haare föhnen, Rouge und Wimperntusche auftragen, Rock und Bluse anziehen, Parfum verstäuben und Schmuck auswählen – So lange wie heute habe ich schon lange nicht mehr im Bad gebraucht. Dabei gehe ich weder in die Disko noch zum Vorstellungsgespräch. Heute steht Oper auf dem Programm, und meine Begleitung ist schon über 80 Jahre alt.

„Stell dir vor, Evicko, heute habe ich mich ganz alleine gewaschen – ohne Hilfe!“, begrüßt mich paní M. Paní M. ist eine meiner Klientinnen aus der jüdischen Gemeinde. Sie kommt aus Austerlitz, seit einem Sturz vor einem Jahr kann sie nur noch schlecht laufen und sitzt die meiste Zeit im Rollstuhl. Sie zog in das Altenheim in Brünn um, wo sie sich mit einer anderen Dame ein kleines Zimmer teilt. Die Aussicht auf den Opernbesuch hat in ihr offensichtlich ungeahnte Kräfte geweckt. Wir hatten uns um vier Uhr verabredet, damit ich ihr mit dem Fertigmachen helfen kann. Aber offensichtlich komme ich zu spät: Fein herausgeputzt in Bluse und Blazer sitzt sie in ihrem Sessel, die Handtasche ist schon gepackt und sogar den besten Rollstuhl hat sie schon organisiert, er steht zur Abfahrt bereit in einer Zimmerecke.

Dafür inspizieren die beiden Damen jetzt aufs Genaueste das Resultat meiner Bemühungen. Ganz zufrieden sind sie nicht: Ich werde erst mal darüber belehrt, dass man auf keinen Fall ohne Strumpfhose in die Oper gehen kann (zum Glück habe ich eine dabei). Dann wird mir noch Lippenstift (knallpink) und Schmuck geliehen und meine Bluse zurecht gezupft. Jetzt endlich werde ich den hohen Ansprüchen gerecht. „Jo, das kann sich sehen lassen“ kommentiert paní M.s Zimmergenossin. Da bin ich aber erleichtert.

Nächster Programmpunkt: Wegzehrung beschaffen. Und zwar in dem kleinen Laden um die Ecke, der seine Kundschaft wohl zu 90% aus dem besagten Altenheim bezieht. „Hallo, Mädels!“ begrüßt uns der Inhaber und schenkt seinen treuen Stammkunden ein Säckchen Kirschen aus dem eigenen Garten.

Da fährt auch schon unser Taxi vor und unser persönlicher Chauffeur für den Abend, mein Kollege David, steigt aus. Vielleicht liegt es an dem schicken Anzug, jedenfalls präsentiert er sich ganz als formvollendeter „dzentlmen“. Auch meine beiden Mitbewohnerinnen und –freiwilligen Teresa und Talita sind mit von der Partie. Das Auto, einen geräumigen Logan, haben wir samt Invalidenausweis vom Betreuten Wohnen geliehen, er ist in hohem Maße rollstuhlkompatibel und bestens für unser Vorhaben geeignet.

Endlich kann es losgehen in Richtung Stadt. Das altehrwürdige Janacektheater kennt paní M. sehr gut, ebenso wie all die anderen Kulturstätten Brünns. Jahrelang pilgerte Pani M. monatlich gemeinsam mit anderen Kulturbegeisterten in die mährische Hauptstadt. Theater, Balett, Musikal, Operette, Oper – das war ihre Welt. Schon seit drei Jahren erlaubt ihr Gesundheitszustand solche Ausflüge nun schon eigentlich nicht mehr. Es dass es dennoch geklappt hat, hat viel Geduld und Rennerei gekostet. Erst galt es, herauszufinden, wie man das Janacektheater im Rollstuhl betreten bzw. –fahren kann, dann musste ein Termin, ein Auto, ein Fahrer gefunden werden, schließlich ist es mir noch irgendwie gelungen, an der Vorverkaufskasse ganz ohne jeglichen Ausweis vier reduzierte Karten auszuhandeln.

Zum Glück klappt auch tatsächlich alles wie vorgesehen, und wenig später sitzen wir tatsächlich im verdunkelten Zuschauerraum. Nabucco will das Volk Israel verschleppen, seine Tochter Fenea verliebt sich und läuft zu den Hebräern über, seine andere Tochter Abigail schmiedet dunkle Intrigen.

Pause.

Paní M. lässt sich vor das Poster mit dem Veranstaltungskalender fahren und plant gleich den nächsten Opernbesuch. Die Brasilianerin Talita begreift, dass sie es hier mit einer Holocaustüberlebenden zu tun hat und stellt fest, wie geehrt sie sich fühlt. Ich überlege noch, ob ich das jetzt übersetzen soll und wenn ja, wie, und rede prompt paní M. auf Englisch an. Paní M. erzählt David, dass sie als Kindergärtnerin gearbeitet hat. „Ich mag Jugend“, sagt sie. Er soll sich wahrscheinlich angesprochen fühlen. Gleich verpflichtet sie ihren neuen Freund, sie am Donnerstga nach Hause nach Austerlitz zu fahren. Eine verwunderte Dame mittleren Alters wird gebeten, ein Foto von unserer sonderbaren kleinen Gruppe zu machen. Und dann gongt es auch schon zur zweiten Hälfte.

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Abigail verschwört sich gegen ihre gesamte Familie, Gedanken fliegen auf goldenen Flügeln, Nabucco wird größenwahnsinnig, dann verrückt und letztendlich jüdisch. Er befreit das Volk Israel aus dem Exil. Zum Schluss sind alle versöhnt und zufrieden. Applaus, die Lichter gehen wieder an.

Bei einem Glas Wein im Opernrestaurant fängt paní M. an, ihre Lebensgeschichte zu erzählen, und erst jetzt wird mir bewusst, wie sehr sie der eben gesehenen 150 Jahre alten Oper ähnelt. Auch meine Klientin wurde wegen ihrer jüdischen Abstammung verschleppt und gedemütigt, und es sollte viel Zeit vergehen, ehe das Schicksal es wieder besser mit ihr meinte.

Da waren die zutiefst traumatisierenden Jahre im Konzentrationslager Terezín. Was für eine Qual es für die damals Neunjährige gewesen sein muss, jeden Tag bis zu 12 Stunden Zwangsarbeit in den Gärten der Ghettoanlage zu arbeiten und doch jeden Tag hungrig schlafen zu gehen, kann man sich kaum vorstellen. Dass sie nicht nach Auschwitz oder ein anderes Vernichtungslager deportiert wurde, verdankt paní M. ihrem Vater, der im Konzentrationslager für die Nazis eine wichtige Aufgabe übernahm: Als gelernter Zahnarzt zog er den Toten vor der Verbrennung im Krematorium die Goldzähne. Nach drei Jahren kehrte sie mit ihren Eltern wieder nach Hause zurück – als einzige Familie aus Austerlitz. Die Leidensgeschichte paní M.s jedoch ging weiter: Ihr Vater starb sehr früh, der Mann den sie mit jungen Jahren heiratete, entpuppte sich als notorischer Trinker. „Bis zu meinem 50. Lebensjahr habe ich nur gelitten“, resümiert sie.
Aber es schwingt überhaupt keine Bitterkeit darin mit. „Meine Ärztin hat mir gesagt: Leben sie jetzt endlich!“

Eine Woche später: paní M. in ihrer Heimatstadt Austerlitz

Und das tut paní M. Soweit es die widrigen Umstände erlauben. „Deshalb freue ich mich so, wenn ich mal raus komme, da komme ich wenigstens auf andere Gedanken.“ Als wir uns zieren, uns das Glas Wein bezahlen zu lassen, wir sie beinahe böse: „Er weiß, ob wir morgen noch leben? Wenn ich sterbe, bleibt das Geld übrig. Da gebe ich es doch besser jetzt schon aus.“ Womit sie eigentlich Recht hat.

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Eva W. - 12. Jul, 13:24

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Lieber Herr Prof. Ehrle,...
Lieber Herr Prof. Ehrle, vielen Dank für ihr fortgesetztes...
evamariawalther2 - 18. Sep, 13:51
https://www.asf-ev.de/de/e inblicke/lebenszeichen-vom -freiwilligendienst/eva-ma ria-walther.html
https://www.asf-ev.de/de/e inblicke/lebenszeichen-vom -freiwilligendienst/eva-ma ria-walther.html
EvaMariaWalther - 10. Jun, 18:30
Nachtrag: Ganze 1 1/2...
Nachtrag: Ganze 1 1/2 Wochen hat meine Fahrsperre gedauert....
EvaMariaWalther - 10. Mär, 23:26
https://www.asf-ev.de/de/e inblicke/lebenszeichen/eva -maria-walther.html
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EvaMariaWalther - 10. Mär, 23:21
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EvaMariaWalther - 2. Sep, 22:29

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