Mittwoch, 11. August 2010

Alles total normal

Nein, Menschen mit geistiger Behinderung sind keine Engel. Und jemand, der Zeit mit ihnen verbringt, ist auch keiner. Er wird noch nicht mal automatisch ein besserer Mensch. Er wird vielmehr zunächst mal gezwickt, angespuckt und angebrüllt.

Ich absolviere mein obligatorisches Sozialpraktikum in einer Förder- und Betreuungsgruppe, in der unter Anleitung leichte Sortier- und Montagearbeiten erledigt werden. Die Einrichtung erweckt ein klein wenig den Eindruck, als solle hier unbedingt ein Anschein von Normalität erweckt werden. Man spricht nicht von Menschen mit oder ohne geistige Behinderung. Es gibt nur „Beschäftigte“ und „Mitarbeiter“. Um 10 Uhr ist „Frühstückspause“, um 17 Uhr „Feierabend“, außerdem steht jedem Beschäftigtem eine gewisse Anzahl an „Urlaubstagen“ zu.

Diese Begrifflichkeiten sind irreführend: Der normale, geregelte Arbeitsalltag, den sie nahelegen, findet so nicht statt. Manche kuriose Angewohnheit der Angestellten hat meine Nerven zu Anfang ganz schön strapaziert. Viele Beschäftigte schlafen den ganzen Vormittag, andere wippen unermüdlich auf ihrem Stuhl hin und her, wieder andere folgen einem unendlichen Wandertrieb, der sie ein ums andere Mal um den großen Tisch in die Mitte des Raumes schickt. Sie nässen regelmäßig ein. Sie hören SWR4. Und sie gießen den Tee prinzipiell NEBEN den Becher!!

Natürlich arbeiten auch einige. Sie sortieren mithilfe eines Zählbrettes Wäscheklammern (immer zehn von jeder Farbe) oder montieren Anschlussklemmen. Da werden aber auch weiße Blättchen aus einem blauen Behälter abgezählt und in Plastiktüten gefüllt, anschließend werden die Tüten wieder geöffnet und die Blättchen über dem blauen Behälter ausgekippt. Da werden Schrauben mit Muttern zusammen- und am nächsten Tag wieder auseinandergeschraubt. Da werden bunte Plastikteilchen nach Farbe sortiert- wieder und wieder.

Als Außenstehender wird man Schwierigkeiten damit haben, in den letzteren Tätigkeiten einen Sinn zu erkennen. Sieht man allerdings, wie eifrig gewerkelt und wie stolz hinterher die Früchte der Arbeit präsentiert werden, fragt man sich, ob Sinn bzw. Nutzen die Kategorien sind, nach denen man hier fragen muss.

Bisher habe ich mich immer nur damit auseinandergesetzt, inwiefern eine Behinderung ein Leben in Normalität erschwert. Hier erkenne ich nun endlich, dass diese Frage völlig zweitrangig ist, insofern die Lebensqualität nicht eingeschränkt ist. Dass das der Fall ist, beweisen die meisten Beschäftigten immer wieder, wenn sie unvermittelt laut johlen und juchzen und sich offensichtlich pudelwohl fühlen in ihrer Haut. Von den hauptamtlichen Betreuern lerne ich, das dieTagesstruktur, die durch die Werkstättenarbeit vermittelt werden soll, wesentlich zu diesem Wohlbefinden beiträgt.

Für jemanden, der wie ich keinerlei Erfahrung im Umgang mit behinderten Menschen hat, ist die erste Begegnung erst mal verstörend. Man kommt ins Grübeln, stellt sich viele Fragen, weiß einfach nicht, wie man mit dieser Andersartigkeit umgehen soll. Auf die ultimative Anleitung, die eine Lösung für jedes Problem bereithält, wartet man allerdings vergebens. Die vielleicht wichtigste Erkenntnis war für mich: Man muss sich auf jeden Menschen einzeln einlassen. Was dem einen ein vergnügtes Quietschen entlockt, kann bei einem anderen zu einem handfesten Ausraster führen. Wenn man sich darauf einstellt, verändert sich auch der Blick auf die Menschen und die angeblichen Makel verwandeln allmählich in Besonderheiten. So bin ich inzwischen sensibilisiert für die vielen schönen, komischen oder ungewöhnlichen Momente, die sich immer wieder ereignen:

Wenn die Schüchterne nach minutenlangem gutem Zureden anfängt, die Wäscheklammern ohne Zählbrett abzuzählen. Wenn die sonst so Lethargische die Holzpuzzel in einer solchen Geschwindigkeit löst, dass einem schon vom Zuschauen schwindlig wird. Wenn der Ältere plötzlich Tränen in den Augen hat, weil ihn das Lied im Radio so berührt.

Man muss schon ein Herz aus Felsgranit haben, sollte es einen völlig kalt lassen, mit Handkuss begrüßt und dann und wann ganz ohne erkennbaren Grund umarmt zu werden.

Und dann, in der Frühstückspause, stimmt der, der sonst kaum etwas sagt, ganz plötzlich ein Lied an: „Ole, ole, ola! La paloma in Gran Canaria!“ Ein breites Schmunzeln verbreitet sich unter den Anwesenden. Ich will mir etwas Tee nachschenken und überflute den halben Tisch.

Muss wohl an der Kanne liegen.

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Lieber Herr Prof. Ehrle,...
Lieber Herr Prof. Ehrle, vielen Dank für ihr fortgesetztes...
evamariawalther2 - 18. Sep, 13:51
https://www.asf-ev.de/de/e inblicke/lebenszeichen-vom -freiwilligendienst/eva-ma ria-walther.html
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EvaMariaWalther - 10. Jun, 18:30
Nachtrag: Ganze 1 1/2...
Nachtrag: Ganze 1 1/2 Wochen hat meine Fahrsperre gedauert....
EvaMariaWalther - 10. Mär, 23:26
https://www.asf-ev.de/de/e inblicke/lebenszeichen/eva -maria-walther.html
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EvaMariaWalther - 10. Mär, 23:21
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