Ein Tag wie jeder andere
Unmittelbar nach jeder Katastrophe gibt es einen kurzen Moment, ein paar kleine, flüchtige Sekunden, in denen einem ihr ganzes Ausmaß mit allen Folgen, Schmerzen und Entbehrungen glasklar vor Augen steht. Ich war kaum nach meinem Fahrradunfall auf dem Boden aufgeschlagen, schon war mir sonnenklar: Der schöne Ausflug ist zu Ende, die Ferien sind gelaufen, ich werde etliche Tage im Krankenhaus verbringen und wahrscheinlich bleibende Schäden davontragen. In diesem Augenblick weiß man genau, dass nichts mehr so sein wird, wie es war. Aber nur solange, bis die psychische Selbstschutzmaschinerie anfängt, den Geist in eine Art Lotterzustand zu versetzen und uns das Gegenteil vorzuspiegeln.
Auch heute war alles wie immer. Wir standen an der Haltestelle, ich mit meinen Schutzbefohlenen. Ich hielt nach der Straßenbahn Ausschau und unterhielt mich mit E.. Ach was, unterhalten, Unfug haben wir gemacht: Die Augen ganz weit aufreißen und sich dem anderen nähern, bis das Bild unscharf wird. Genauso unscharf wie E.s Pupillen sehe ich aus den Augenwinkeln N.s Silhouette, wie sie schwankt, stolpert und an den viel zu nahe stehenden Straßenbahnwagen kippt, der sich just in diesem Moment in Bewegung setzt. Ganz scharf sehe ich wenige Millisekunden später, wie N., zwischen Fahrzeug und Erde hängend, über den Asphalt gezogen wird.
Und da ist er wieder, der nüchterne Verstand in all seiner Brutalität: Mit ein paar Gliedmaßen weniger wird N. in Zukunft auskommen müssen. Vielleicht wird sie im Rollstuhl sitzen. Alle werden davon erfahren, wie schändlich die junge deutsche Freiwillige ohne Erfahrung ihre Pflicht vernachlässigt hat. Im Wohnheim werden sie mir nie mehr vertrauen. Ich werde N.s Eltern nicht mehr in die Augen schauen können, nie mehr werde ich ohne Angst mit den Klienten an einer Straßenbahnhaltestelle stehen. Wenn sie mich überhaupt noch mit den Klienten fahren lassen, wenn ich meinen Dienst überhaupt fortsetzen darf…! Die Schreckensvision dauert genauso lange, bis die Straßenbahn gebremst hat, ich zu N. gespurtet und ihren Rucksack aus dem Fahrgestell befreit habe. Dann wird sie verdrängt von zitternden Knien, rasendem Puls und der dicken Nebelsuppe in meinem Kopf, die jede rationale Analyse des Geschehenen unmöglich macht und mich den ganzen restlichen Weg bis zur Tagesstätte lähmt.
Zum Glück neigt auch der nüchterne Verstand ab und an zu Übertreibungen. Eigentlich ist nichts geschehen: Alle Gliedmaßen sind noch da, keine Platzwunde, nicht mal einen kleinen Kratzer hat N. abbekommen. Nur die Jacke ist schmutzig von Maschinenöl und Straßenstaub, worüber sich N. sogleich lautstark beschwert. N. kann nicht reden, aber sie teilt sich dennoch gerne und umfangreich mit. Gestern habe ich sie noch gefragt, wie es am Sonntag in der Kirche war. Ihre Antwort: Ein energisches „Brrrrr!!!“, kombiniert mit der Simulation eines heftigen Schüttelfrostes. Mehr Informationen braucht kein Mensch. Der Unfall lässt sie relativ kalt, die ständige Frage nach ihrem Wohlbefinden fängt sie recht bald an zu nerven. Sie weiß ja auch nicht, dass es nur Glück war, reines Glück, oder Gottes Wille, dass nicht mehr passiert ist. – Es hätte genauso gut viel schlimmer kommen können. Und das alles nur, weil ich nicht aufgepasst habe, weil ich nicht genau hingesehen habe, weil ich N. nicht darauf hingewiesen habe, dass sie viel zu nahe an der Straßenbahn steht. Ich hätte aufpassen müssen, ich hätte es sehen müssen, ich hätte etwas sagen müssen. In der Effeta und auch später in meinem Wohnheim sind alle schrecklich nett. Sie sagen, dass ich nichts dafür kann, dass man seine Augen nicht überall haben kann, dass man keine Maschine ist, dass es jedem passieren kann. Und sie sind erleichtert, dass es nicht ihnen passiert ist. Nein, mir ist es passiert. Ich weiß nicht, soll ich ihnen glauben? Kann ich so schlecht Schuldgefühle ertragen? Oder haben sie Recht, und ich gräme mich eigentlich ohne Grund? Ich kann es nicht sagen. Selbstvorwürfe oder Selbstmitleid? Ich weiß noch nicht einmal, was schlimmer ist.
Völlig bedropst stehe ich in der Mitte des Raumes. Da plötzlich, ganz unvermittelt, kommt T., ein anderer Klient, der nicht sprechen kann, auf mich zu, nimmt mich in den Arm und drückt mich fest. Und lässt mich nicht mehr los.
Jetzt ist alles anders. Alle haben davon erfahren. Ich darf vorerst mit einigen Klienten nicht mehr alleine unterwegs sein, zumindest, bis offiziell geklärt ist, ob Freiwilligen das gesetzlich überhaupt erlaubt ist, oder alle Eltern eine Einverständniserklärung gegeben haben. N.s Eltern sind krank vor Sorge. Aber alles wird wieder gut, irgendwann. Oder?
Auch heute war alles wie immer. Wir standen an der Haltestelle, ich mit meinen Schutzbefohlenen. Ich hielt nach der Straßenbahn Ausschau und unterhielt mich mit E.. Ach was, unterhalten, Unfug haben wir gemacht: Die Augen ganz weit aufreißen und sich dem anderen nähern, bis das Bild unscharf wird. Genauso unscharf wie E.s Pupillen sehe ich aus den Augenwinkeln N.s Silhouette, wie sie schwankt, stolpert und an den viel zu nahe stehenden Straßenbahnwagen kippt, der sich just in diesem Moment in Bewegung setzt. Ganz scharf sehe ich wenige Millisekunden später, wie N., zwischen Fahrzeug und Erde hängend, über den Asphalt gezogen wird.
Und da ist er wieder, der nüchterne Verstand in all seiner Brutalität: Mit ein paar Gliedmaßen weniger wird N. in Zukunft auskommen müssen. Vielleicht wird sie im Rollstuhl sitzen. Alle werden davon erfahren, wie schändlich die junge deutsche Freiwillige ohne Erfahrung ihre Pflicht vernachlässigt hat. Im Wohnheim werden sie mir nie mehr vertrauen. Ich werde N.s Eltern nicht mehr in die Augen schauen können, nie mehr werde ich ohne Angst mit den Klienten an einer Straßenbahnhaltestelle stehen. Wenn sie mich überhaupt noch mit den Klienten fahren lassen, wenn ich meinen Dienst überhaupt fortsetzen darf…! Die Schreckensvision dauert genauso lange, bis die Straßenbahn gebremst hat, ich zu N. gespurtet und ihren Rucksack aus dem Fahrgestell befreit habe. Dann wird sie verdrängt von zitternden Knien, rasendem Puls und der dicken Nebelsuppe in meinem Kopf, die jede rationale Analyse des Geschehenen unmöglich macht und mich den ganzen restlichen Weg bis zur Tagesstätte lähmt.
Zum Glück neigt auch der nüchterne Verstand ab und an zu Übertreibungen. Eigentlich ist nichts geschehen: Alle Gliedmaßen sind noch da, keine Platzwunde, nicht mal einen kleinen Kratzer hat N. abbekommen. Nur die Jacke ist schmutzig von Maschinenöl und Straßenstaub, worüber sich N. sogleich lautstark beschwert. N. kann nicht reden, aber sie teilt sich dennoch gerne und umfangreich mit. Gestern habe ich sie noch gefragt, wie es am Sonntag in der Kirche war. Ihre Antwort: Ein energisches „Brrrrr!!!“, kombiniert mit der Simulation eines heftigen Schüttelfrostes. Mehr Informationen braucht kein Mensch. Der Unfall lässt sie relativ kalt, die ständige Frage nach ihrem Wohlbefinden fängt sie recht bald an zu nerven. Sie weiß ja auch nicht, dass es nur Glück war, reines Glück, oder Gottes Wille, dass nicht mehr passiert ist. – Es hätte genauso gut viel schlimmer kommen können. Und das alles nur, weil ich nicht aufgepasst habe, weil ich nicht genau hingesehen habe, weil ich N. nicht darauf hingewiesen habe, dass sie viel zu nahe an der Straßenbahn steht. Ich hätte aufpassen müssen, ich hätte es sehen müssen, ich hätte etwas sagen müssen. In der Effeta und auch später in meinem Wohnheim sind alle schrecklich nett. Sie sagen, dass ich nichts dafür kann, dass man seine Augen nicht überall haben kann, dass man keine Maschine ist, dass es jedem passieren kann. Und sie sind erleichtert, dass es nicht ihnen passiert ist. Nein, mir ist es passiert. Ich weiß nicht, soll ich ihnen glauben? Kann ich so schlecht Schuldgefühle ertragen? Oder haben sie Recht, und ich gräme mich eigentlich ohne Grund? Ich kann es nicht sagen. Selbstvorwürfe oder Selbstmitleid? Ich weiß noch nicht einmal, was schlimmer ist.
Völlig bedropst stehe ich in der Mitte des Raumes. Da plötzlich, ganz unvermittelt, kommt T., ein anderer Klient, der nicht sprechen kann, auf mich zu, nimmt mich in den Arm und drückt mich fest. Und lässt mich nicht mehr los.
Jetzt ist alles anders. Alle haben davon erfahren. Ich darf vorerst mit einigen Klienten nicht mehr alleine unterwegs sein, zumindest, bis offiziell geklärt ist, ob Freiwilligen das gesetzlich überhaupt erlaubt ist, oder alle Eltern eine Einverständniserklärung gegeben haben. N.s Eltern sind krank vor Sorge. Aber alles wird wieder gut, irgendwann. Oder?
Eva W. - 8. Mär, 20:16
Eva W. - 10. Mär, 23:26
Nachtrag: Ganze 1 1/2 Wochen hat meine Fahrsperre gedauert. Jetzt sind wir schon wieder jeden Tag mit Bus und Bahn unterwegs. Darüber bin ich einfach nur froh. Und hoffentlich vorsichtiger als je zuvor.