Arbeit

Samstag, 18. Juni 2011

Va, pensiero

Duschen, Haare waschen, Deo, Zähne putzen, Haare föhnen, Rouge und Wimperntusche auftragen, Rock und Bluse anziehen, Parfum verstäuben und Schmuck auswählen – So lange wie heute habe ich schon lange nicht mehr im Bad gebraucht. Dabei gehe ich weder in die Disko noch zum Vorstellungsgespräch. Heute steht Oper auf dem Programm, und meine Begleitung ist schon über 80 Jahre alt.

„Stell dir vor, Evicko, heute habe ich mich ganz alleine gewaschen – ohne Hilfe!“, begrüßt mich paní M. Paní M. ist eine meiner Klientinnen aus der jüdischen Gemeinde. Sie kommt aus Austerlitz, seit einem Sturz vor einem Jahr kann sie nur noch schlecht laufen und sitzt die meiste Zeit im Rollstuhl. Sie zog in das Altenheim in Brünn um, wo sie sich mit einer anderen Dame ein kleines Zimmer teilt. Die Aussicht auf den Opernbesuch hat in ihr offensichtlich ungeahnte Kräfte geweckt. Wir hatten uns um vier Uhr verabredet, damit ich ihr mit dem Fertigmachen helfen kann. Aber offensichtlich komme ich zu spät: Fein herausgeputzt in Bluse und Blazer sitzt sie in ihrem Sessel, die Handtasche ist schon gepackt und sogar den besten Rollstuhl hat sie schon organisiert, er steht zur Abfahrt bereit in einer Zimmerecke.

Dafür inspizieren die beiden Damen jetzt aufs Genaueste das Resultat meiner Bemühungen. Ganz zufrieden sind sie nicht: Ich werde erst mal darüber belehrt, dass man auf keinen Fall ohne Strumpfhose in die Oper gehen kann (zum Glück habe ich eine dabei). Dann wird mir noch Lippenstift (knallpink) und Schmuck geliehen und meine Bluse zurecht gezupft. Jetzt endlich werde ich den hohen Ansprüchen gerecht. „Jo, das kann sich sehen lassen“ kommentiert paní M.s Zimmergenossin. Da bin ich aber erleichtert.

Nächster Programmpunkt: Wegzehrung beschaffen. Und zwar in dem kleinen Laden um die Ecke, der seine Kundschaft wohl zu 90% aus dem besagten Altenheim bezieht. „Hallo, Mädels!“ begrüßt uns der Inhaber und schenkt seinen treuen Stammkunden ein Säckchen Kirschen aus dem eigenen Garten.

Da fährt auch schon unser Taxi vor und unser persönlicher Chauffeur für den Abend, mein Kollege David, steigt aus. Vielleicht liegt es an dem schicken Anzug, jedenfalls präsentiert er sich ganz als formvollendeter „dzentlmen“. Auch meine beiden Mitbewohnerinnen und –freiwilligen Teresa und Talita sind mit von der Partie. Das Auto, einen geräumigen Logan, haben wir samt Invalidenausweis vom Betreuten Wohnen geliehen, er ist in hohem Maße rollstuhlkompatibel und bestens für unser Vorhaben geeignet.

Endlich kann es losgehen in Richtung Stadt. Das altehrwürdige Janacektheater kennt paní M. sehr gut, ebenso wie all die anderen Kulturstätten Brünns. Jahrelang pilgerte Pani M. monatlich gemeinsam mit anderen Kulturbegeisterten in die mährische Hauptstadt. Theater, Balett, Musikal, Operette, Oper – das war ihre Welt. Schon seit drei Jahren erlaubt ihr Gesundheitszustand solche Ausflüge nun schon eigentlich nicht mehr. Es dass es dennoch geklappt hat, hat viel Geduld und Rennerei gekostet. Erst galt es, herauszufinden, wie man das Janacektheater im Rollstuhl betreten bzw. –fahren kann, dann musste ein Termin, ein Auto, ein Fahrer gefunden werden, schließlich ist es mir noch irgendwie gelungen, an der Vorverkaufskasse ganz ohne jeglichen Ausweis vier reduzierte Karten auszuhandeln.

Zum Glück klappt auch tatsächlich alles wie vorgesehen, und wenig später sitzen wir tatsächlich im verdunkelten Zuschauerraum. Nabucco will das Volk Israel verschleppen, seine Tochter Fenea verliebt sich und läuft zu den Hebräern über, seine andere Tochter Abigail schmiedet dunkle Intrigen.

Pause.

Paní M. lässt sich vor das Poster mit dem Veranstaltungskalender fahren und plant gleich den nächsten Opernbesuch. Die Brasilianerin Talita begreift, dass sie es hier mit einer Holocaustüberlebenden zu tun hat und stellt fest, wie geehrt sie sich fühlt. Ich überlege noch, ob ich das jetzt übersetzen soll und wenn ja, wie, und rede prompt paní M. auf Englisch an. Paní M. erzählt David, dass sie als Kindergärtnerin gearbeitet hat. „Ich mag Jugend“, sagt sie. Er soll sich wahrscheinlich angesprochen fühlen. Gleich verpflichtet sie ihren neuen Freund, sie am Donnerstga nach Hause nach Austerlitz zu fahren. Eine verwunderte Dame mittleren Alters wird gebeten, ein Foto von unserer sonderbaren kleinen Gruppe zu machen. Und dann gongt es auch schon zur zweiten Hälfte.

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Abigail verschwört sich gegen ihre gesamte Familie, Gedanken fliegen auf goldenen Flügeln, Nabucco wird größenwahnsinnig, dann verrückt und letztendlich jüdisch. Er befreit das Volk Israel aus dem Exil. Zum Schluss sind alle versöhnt und zufrieden. Applaus, die Lichter gehen wieder an.

Bei einem Glas Wein im Opernrestaurant fängt paní M. an, ihre Lebensgeschichte zu erzählen, und erst jetzt wird mir bewusst, wie sehr sie der eben gesehenen 150 Jahre alten Oper ähnelt. Auch meine Klientin wurde wegen ihrer jüdischen Abstammung verschleppt und gedemütigt, und es sollte viel Zeit vergehen, ehe das Schicksal es wieder besser mit ihr meinte.

Da waren die zutiefst traumatisierenden Jahre im Konzentrationslager Terezín. Was für eine Qual es für die damals Neunjährige gewesen sein muss, jeden Tag bis zu 12 Stunden Zwangsarbeit in den Gärten der Ghettoanlage zu arbeiten und doch jeden Tag hungrig schlafen zu gehen, kann man sich kaum vorstellen. Dass sie nicht nach Auschwitz oder ein anderes Vernichtungslager deportiert wurde, verdankt paní M. ihrem Vater, der im Konzentrationslager für die Nazis eine wichtige Aufgabe übernahm: Als gelernter Zahnarzt zog er den Toten vor der Verbrennung im Krematorium die Goldzähne. Nach drei Jahren kehrte sie mit ihren Eltern wieder nach Hause zurück – als einzige Familie aus Austerlitz. Die Leidensgeschichte paní M.s jedoch ging weiter: Ihr Vater starb sehr früh, der Mann den sie mit jungen Jahren heiratete, entpuppte sich als notorischer Trinker. „Bis zu meinem 50. Lebensjahr habe ich nur gelitten“, resümiert sie.
Aber es schwingt überhaupt keine Bitterkeit darin mit. „Meine Ärztin hat mir gesagt: Leben sie jetzt endlich!“

Eine Woche später: paní M. in ihrer Heimatstadt Austerlitz

Und das tut paní M. Soweit es die widrigen Umstände erlauben. „Deshalb freue ich mich so, wenn ich mal raus komme, da komme ich wenigstens auf andere Gedanken.“ Als wir uns zieren, uns das Glas Wein bezahlen zu lassen, wir sie beinahe böse: „Er weiß, ob wir morgen noch leben? Wenn ich sterbe, bleibt das Geld übrig. Da gebe ich es doch besser jetzt schon aus.“ Womit sie eigentlich Recht hat.

Dienstag, 8. März 2011

Ein Tag wie jeder andere

Unmittelbar nach jeder Katastrophe gibt es einen kurzen Moment, ein paar kleine, flüchtige Sekunden, in denen einem ihr ganzes Ausmaß mit allen Folgen, Schmerzen und Entbehrungen glasklar vor Augen steht. Ich war kaum nach meinem Fahrradunfall auf dem Boden aufgeschlagen, schon war mir sonnenklar: Der schöne Ausflug ist zu Ende, die Ferien sind gelaufen, ich werde etliche Tage im Krankenhaus verbringen und wahrscheinlich bleibende Schäden davontragen. In diesem Augenblick weiß man genau, dass nichts mehr so sein wird, wie es war. Aber nur solange, bis die psychische Selbstschutzmaschinerie anfängt, den Geist in eine Art Lotterzustand zu versetzen und uns das Gegenteil vorzuspiegeln.

Auch heute war alles wie immer. Wir standen an der Haltestelle, ich mit meinen Schutzbefohlenen. Ich hielt nach der Straßenbahn Ausschau und unterhielt mich mit E.. Ach was, unterhalten, Unfug haben wir gemacht: Die Augen ganz weit aufreißen und sich dem anderen nähern, bis das Bild unscharf wird. Genauso unscharf wie E.s Pupillen sehe ich aus den Augenwinkeln N.s Silhouette, wie sie schwankt, stolpert und an den viel zu nahe stehenden Straßenbahnwagen kippt, der sich just in diesem Moment in Bewegung setzt. Ganz scharf sehe ich wenige Millisekunden später, wie N., zwischen Fahrzeug und Erde hängend, über den Asphalt gezogen wird.

Und da ist er wieder, der nüchterne Verstand in all seiner Brutalität: Mit ein paar Gliedmaßen weniger wird N. in Zukunft auskommen müssen. Vielleicht wird sie im Rollstuhl sitzen. Alle werden davon erfahren, wie schändlich die junge deutsche Freiwillige ohne Erfahrung ihre Pflicht vernachlässigt hat. Im Wohnheim werden sie mir nie mehr vertrauen. Ich werde N.s Eltern nicht mehr in die Augen schauen können, nie mehr werde ich ohne Angst mit den Klienten an einer Straßenbahnhaltestelle stehen. Wenn sie mich überhaupt noch mit den Klienten fahren lassen, wenn ich meinen Dienst überhaupt fortsetzen darf…! Die Schreckensvision dauert genauso lange, bis die Straßenbahn gebremst hat, ich zu N. gespurtet und ihren Rucksack aus dem Fahrgestell befreit habe. Dann wird sie verdrängt von zitternden Knien, rasendem Puls und der dicken Nebelsuppe in meinem Kopf, die jede rationale Analyse des Geschehenen unmöglich macht und mich den ganzen restlichen Weg bis zur Tagesstätte lähmt.

Zum Glück neigt auch der nüchterne Verstand ab und an zu Übertreibungen. Eigentlich ist nichts geschehen: Alle Gliedmaßen sind noch da, keine Platzwunde, nicht mal einen kleinen Kratzer hat N. abbekommen. Nur die Jacke ist schmutzig von Maschinenöl und Straßenstaub, worüber sich N. sogleich lautstark beschwert. N. kann nicht reden, aber sie teilt sich dennoch gerne und umfangreich mit. Gestern habe ich sie noch gefragt, wie es am Sonntag in der Kirche war. Ihre Antwort: Ein energisches „Brrrrr!!!“, kombiniert mit der Simulation eines heftigen Schüttelfrostes. Mehr Informationen braucht kein Mensch. Der Unfall lässt sie relativ kalt, die ständige Frage nach ihrem Wohlbefinden fängt sie recht bald an zu nerven. Sie weiß ja auch nicht, dass es nur Glück war, reines Glück, oder Gottes Wille, dass nicht mehr passiert ist. – Es hätte genauso gut viel schlimmer kommen können. Und das alles nur, weil ich nicht aufgepasst habe, weil ich nicht genau hingesehen habe, weil ich N. nicht darauf hingewiesen habe, dass sie viel zu nahe an der Straßenbahn steht. Ich hätte aufpassen müssen, ich hätte es sehen müssen, ich hätte etwas sagen müssen. In der Effeta und auch später in meinem Wohnheim sind alle schrecklich nett. Sie sagen, dass ich nichts dafür kann, dass man seine Augen nicht überall haben kann, dass man keine Maschine ist, dass es jedem passieren kann. Und sie sind erleichtert, dass es nicht ihnen passiert ist. Nein, mir ist es passiert. Ich weiß nicht, soll ich ihnen glauben? Kann ich so schlecht Schuldgefühle ertragen? Oder haben sie Recht, und ich gräme mich eigentlich ohne Grund? Ich kann es nicht sagen. Selbstvorwürfe oder Selbstmitleid? Ich weiß noch nicht einmal, was schlimmer ist.

Völlig bedropst stehe ich in der Mitte des Raumes. Da plötzlich, ganz unvermittelt, kommt T., ein anderer Klient, der nicht sprechen kann, auf mich zu, nimmt mich in den Arm und drückt mich fest. Und lässt mich nicht mehr los.

Jetzt ist alles anders. Alle haben davon erfahren. Ich darf vorerst mit einigen Klienten nicht mehr alleine unterwegs sein, zumindest, bis offiziell geklärt ist, ob Freiwilligen das gesetzlich überhaupt erlaubt ist, oder alle Eltern eine Einverständniserklärung gegeben haben. N.s Eltern sind krank vor Sorge. Aber alles wird wieder gut, irgendwann. Oder?

Sonntag, 6. März 2011

Ples Zabek - Radost, zábava, legrace, vyrazení (zu deutsch: Spaß, Spaß, Spaß und Spaß auf dem Zabky-Ball)

Was macht man so als Freiwillige den ganzen Tag lang? Zum Beispiel sich auf dem integrativen Ball des Zabky-Gemeinschaft amüsieren. Ein gesellschaftliches Highlight der ganz besonderen Art! Ein paar kleine Eindrücke:
Tanz zu Countrymusik - der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt!


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Finde den Unterschied!


Danse contemporain


Jüdische Tänze: leicht zu lernen, massentauglich und sooo lustig!


Schickeria


Two new stars were born...


...und Elvis lebt!


Fast das ganze Chranené Bydlení Zabovreska (im Ausnahmezustand)

Freitag, 4. Februar 2011

Im Rehabilitationszentrum "Svaté Anny"

Sie ist gestürzt. Das hätte nicht passieren dürfen. Jetzt liegt sie hier in diesem Krankenhaus, die Betten sind hart, das Essen schlecht, die Schwestern unfreundlich. Außerdem müsste sie dringend ihre Tochter anrufen, vielleicht kann sie schnell herkommen und mit ihr zur Toilette gehen, alleine kann sie es noch nicht. Sie fragt eine Schwester, sehr höflich, ob sie denn kein Telefon habe, das sie eben benutzen könne…?, doch die ist kurz angebunden und bügelt die Anfrage unwirsch ab. Na ja, sie haben eben einen harten Job, immer viel zu tun, aber etwas freundlicher könnten sie ja schon sein. Macht nichts, noch arbeitet die Tochter ja sowieso, sie ist Zahnärztin in einer ambulanten Klinik. Am Nachmittag kommt sie. Wie spät ist es eigentlich? Ach, da kommt ja Evi, die junge Freiwillige aus Heidelberg, oder war es Dresden? Egal. Wichtig ist, dass sie vielleicht ein Handy dabei hat. Wie? Zu Hause vergessen. Ach so. Sie dachte, diese jungen Leute würden ihre Mobiltelefone überall hin mittragen. Sie hätte es so dringend gebraucht, die Tochter kann ja gar nicht arbeiten, sie hat den Finger gebrochen, da kann sie ja genauso gut ein bisschen früher kommen. Sie hat noch die Schlüssel zu ihrer Wohnung, sie muss sie unbedingt fragen, ob denn auch abgeschlossen ist. Da kann ja Gott weiß was passieren. Da kommen die Schwestern mit dem Essenswagen herein. Schon wieder? Sie hat doch eben erst zu Mittag gegessen. Kartoffelbrei mit Hähnchen gab es, eigentlich nicht schlecht, aber der Salat hat gefehlt. Das Mädchen begleitet sie in den Vorraum, in dem gegessen wird. Sie ist ihre Fast-schon-Schwiegerenkelin, sie wird bald ihren Enkel heiraten. Welchen nochmal? Ist ja unwichtig. Ein sehr nettes Mädchen jedenfalls. Aber unbarmherzig. Sie füttert die alte Dame (als ob sie das nicht alleine könnte!) und besteht darauf, dass sie ihr Wasser trinkt. Dabei hat sie doch gar keinen Durst mehr! Warum müssen sie alle immerzu nur quälen? Und warum leiht ihr niemand ein Handy? Bei der Oberschwester hat sie auch keinen Erfolg. Heutzutage sind alle Menschen so misstrauisch. Haben wohl Angst, dass das, was man an ihrem Telefon bespricht, gegen sie verwendet werden kann, dass sie politische Unannehmlichkeiten bekommen. Dabei will sie doch nur die Tochter anrufen, sie soll den Schlüssel mitbringen. Sie hat einen Nachtstuhl gemietet, der ist abgeschlossen. Wenn die Tochter den Schlüssel nicht mitbringt, lässt sie niemand auf den Nachtstuhl gehen, und von den Windeln macht sie nur so ungern Gebrauch. Da kommen schon wieder die Schwestern und nehmen den noch halbvollen Mittagsessensteller wieder mit. Ob sie nicht ihre Tochter kennen würden und vielleicht gesehen hätten? Sie ist ja Zahnärztin, vielleicht war die Schwester schon mal bei ihr in Behandlung. Möglich wäre es ja. Aber die Schwester reagiert überhaupt nicht auf die nette Anfrage. Die versteht kein Deutsch. Ob die junge Dame ihre Enkelin wäre? Ja, das ist meine Enkelin, antwortet sie. Die Enkelin schenkt immer wieder ihr Glas ein, „damit Sie wieder zu Kräften kommen“, sagt sie. Bei so viel Naivität kann die alte Dame nur milde lächeln. Aber sie tut ihr den Gefallen und trinkt das Glas ganz aus, sie soll wegen ihr kein schlechtes Gewissen haben. Nicht, dass sie noch Schwierigkeiten bekommt. Sie ist so ein liebes Mädchen. Schade, dass sie ihr gar nichts anbieten kann. Irgendwo muss sie noch Waffeln haben, sie weiß aber gerade nicht genau, wo. Überhaupt, wo bleibt eigentlich die Tochter, sie müsste doch schon längst da sein. Sie muss unbedingt etwas sehr Wichtiges besprechen, was, fällt ihr gerade nicht mehr ein, aber die Tochter wird schon Bescheid wissen. Das Mädchen verabschiedet sich, es fährt wohl wieder nach Hause, nach Frankfurt. Hoffentlich findet es auch den Weg, nicht, dass es sich verfährt! Es sieht so verwirrt aus...

Sonntag, 14. November 2010

Exklusive Vorveröffentlichung: Artikel für die ASF-Homepage

Aus dem Leben einer hart arbeitenden Freiwilligen, Teil II: Man hört nur mit den Augen gut

Mein Freiwilligendienst in Tschechien hat mich in meinen Grundfesten erschüttert. Prinzipien, die ich für unumstößlich hielt, gelten auf einmal nicht mehr. So war ich zum Beispiel immer davon ausgegangen, dass Zuhören und Verstehen in einem logischen, konsekutiven Zusammenhang stehen. Dabei ist, wie ich bald feststellen musste, zumindest ein Zuhören ohne Verständnis sehr wohl möglich.

Zuhören gehört, neben leichten Arbeiten im Haushalt und kleinen Besorgungen, offiziell zu meinen Aufgaben in der offenen Altenarbeit für die jüdische Gemeinde der Stadt Brno. Zum Beispiel für Frau D. Frau ist 84 Jahre alt; sie ist klein und braunhaarig, ihre Bewegungen sind so langsam und vorsichtig wie die einer Frau, die eine große Last mit sich herumträgt. Ihre kleine Mietwohnung in einem Plattenbau am Stadtrand verlässt sie nur sehr selten. Wenn mich nun also Frau D. bittet, Geschirr zu spülen oder Staub zu saugen, kann sie mir das mithilfe einfacher Gesten und Gebärden leicht verständlich machen. Erst wenn wir uns danach an dem kleinen runden Tisch in ihrer kalten Küche niederlassen und sie anfängt, aus ihrem Leben zu erzählen, wird es problematisch. Denn Frau D. spricht nur Tschechisch.

Ich will mich hier nicht zu einer Kampfschrift gegen die tschechische Sprache hinreißen lassen – deshalb spreche ich hier nicht über unmögliche Konsonantenhäufungen, verliere kein Wort über die 7(!) Fälle des Tschechischen und die gefühlten 2000 unterschiedlichen Deklinationsmuster, nach denen sie gebildet werden, und erwähne mit keinem Wort die unzähligen Ausnahmen und Sonderfälle, die man auswendig lernen könnte.Tschechisch-einfach-unmoeglich

Es genügt wohl, wenn ich sage: Meist gebe ich schon nach fünf Sätzen auf, Frau D. verstehen zu wollen. Zuhören muss ich aber immer noch, und das ist viel schwerer als vermutet. Es reicht aber bei weitem nicht aus, durch zustimmende Bemerkungen Aufmerksamkeit zu simulieren und die Mimik des Gegenübers exakt zu kopieren. So kann ein Lächeln, wenn es schüchtern und verträumt ist, ein Hinweis auf eine schöne Erinnerung sein und somit eine unbedingte Aufforderung, sich anzuschließen. Ist das Lächeln allerdings gequält, könnte nichts falscher sein, als es zu erwidern. Hier verbergen sich oft, übertüncht von einer dicken Schicht Sarkasmus und Bitterkeit, jene Erinnerungen, die sonst zu sehr schmerzen würden.

Nach einer Tasse Instantkaffee gehen wir spazieren, und während uns die Novembersonne vielleicht zum letzten Mal in diesem Jahr ins Gesicht scheint, fühle ich mich ganz erschöpft vom vielen Zuhören und frustriert vom wenigen Verstehen. Frau D. aber erzählt unbeirrt weiter. Je länger ich aber dem schier endlosen Redefluss der alten Dame lausche, desto wahrscheinlicher erscheint es mir, dass ihr vielleicht genau das schon reicht. Außerdem entdecke ich nach und nach umgekehrt eine Art des Verstehens, die ohne Zuhören funktioniert.
pittoreske-Plattenbauten
Worte wie „Terezin“ (Theresienstadt) und „koncentrační tábor“ (Konzentrationslager) kenne ich. Ich verstehe sogar, was Frau D. von ihrem Hund erzählt: Bei ihrer Rückkehr fand sie das treue Tier tot in seiner Hundehütte, wo es drei Jahre lang wartend gelegen hatte. Was Frau D. aber in diesen drei Jahren erlebt hat -Hunger, Kälte, Demütigungen- könnte ich auch in einem Geschichtsbuch nachlesen. Und würde wahrscheinlich genauso wenig verstehen.

Das vorsichtige, schmerzhafte Lächeln ist da viel aufschlussreicher, es verleiht den Worten etwas Greifbares. Es ist das Resultat eines Lebens, das sich um eine schreckliche Erinnerung rankt. Ums Verdrängen, Beschönigen, darüber Reden – um den lebenslangen Kampf mit den Gespenstern im eigenen Kopf. So gesehen ist die bittere Ironie vielleicht sogar ein kleiner Triumph, ein Modus vivendi, der sich nur mit reichlich zeitlichem Abstand einnehmen lässt.

Das Lächeln ist ein unstetes. Manchmal verschwindet die Bitterkeit, und ein echtes Lachen breitet sich auf Frau D.s Gesicht aus. Das passiert, wenn das Wort „manžel“ (Ehemann) fällt. – Ihren späteren Gatten hat Frau D. im Alter von 17 Jahren in Theresienstadt kennen gelernt. Der „manžel“ ist jetzt schon seit 18 Jahren tot.

Er hat sie sicher verstanden, seine Frau D. Vielleicht als Einziger. Ich kann nur versuchen, immer genauer hinzuhören und zu –sehen, um dem Verständnis ein Stückchen näher zu kommen.

Dienstag, 5. Oktober 2010

Aus dem Leben einer hart arbeitenden Freiwilligen - Teil I

Ein bisschen mulmig ist mir schon zumute, als ich vor dem Behindertenwohnheim „Zabovreska“ im Brünner Stadtteil Pisarky stehe. Die hehren Ziele, mit denen ich hergekommen bin (etwas Sinnvolles tun, helfen nach Bedarf, Am-Rande-der-Gesellschaft-Stehende unterstützen), erscheinen mir plötzlich recht utopisch. Weder bin ich der Sprache mächtig, noch habe ich besonders viel Erfahrung mit dieser Art von Arbeit. Verschüchtert mustere ich die graue Fassade des 2-stöckigen Plattenbaus, in dem die acht Klienten leben, um die ich mich das nächste Jahr über kümmern soll. Doch da wird die Gartenpforte aufgestoßen, eine junge Frau kommt herein, sagt, dass sie K. heißt, und nimmt mich zur Begrüßung herzlich in die Arme. „Aber ich kann leider nur wenig Tschechisch“, stottere ich, völlig überrumpelt. „To nevadí!“, das macht nichts, antwortet K. lächelnd und zieht mich hinter sich ins Haus.

Und schon sitze ich auf der gemütlichen Couch in der Wohnküche, dem Herzstück des Gebäudes, eine dampfende Tasse Tee in der einen, eine frische Orange in der anderen Hand. Was sich vor meinen Augen abspielt, sieht nach dem friedvollen Alltag einer ziemlich netten Großfamilie aus: man kocht, unterhält sich, im Fernsehen läuft ein Hockeyspiel. K. hat vorhin allerdings ein bisschen übertrieben mit der reibungslosen Kommunikation. Olga, die Leiterin des Hauses, und alle anderen Mitarbeiter, sprechen nämlich nur mittelmäßiges Englisch und erst recht kein Deutsch. Von den Konversationen verstehe ich daher nur herzlich wenig, und wenn jemand etwas von mir will, muss er das schon zwei-, dreimal sagen. Aber so viel Geduld haben hier zum Glück alle.

Am Freitagabend treffen sich die Mitarbeiter, um zu reden und dabei neuen Wein zu trinken, der so neu gar nicht mal ist. Ich habe, passend zum Anlass, original german Zwiebelkuchen mitgebracht. Merke: Willst du Tschechen für dich gewinnen, dann bring ihnen etwas zu Essen mit und sag, dass du Milan Kundera toll findest. Ich verstehe zwar nicht viel, verfolge aber trotzdem mit, wie Anwesenden immer fröhlicher, das Gelächter immer ausgelassener wird. Auf das übliche Lamentieren über zu lange Arbeitszeiten und Lästern über Vorgesetzte und Untergebene, das ich bei Praktika schon so oft zu hören bekommen habe, warte ich vergebens. Stattdessen tauscht man sich über die Klienten in liebevollem, mitunter gar bewunderndem Ton aus. Wie gut E. tanzen könne und was für ein bemerkenswertes Gedächtnis A. habe. „They are special people“, sagt Lenka, die dankenswerterweise immer mal wieder ein wenig für mich übersetzt. „I think we should learn from them also.“

Ein wahres Wort. Vor allem für mich. Denn egal, was ich in der nächsten Woche unternehme, ob ich die Klienten von der Werkstätte abhole oder mit ihnen essen gehe: Immer bin ich auf ihre Hilfe angewiesen. Die gefühlten 10 000 Bushaltestellen Brnos sind mir genauso fremd wie 2/3 der Begriffe, die auf der Einkaufsliste stehen. Natürlich fühlt sich das erst mal etwas seltsam an, wie verkehrte Welt eben. Aber man gewöhnt sich daran, und die „Klienten" tragen mit ihrer offensichtlich nicht an Bedingungen geknüpften Akzeptanz wesentlich dazu bei, dass ich mich schnell wohl fühle. D., ein etwas älterer Klient, packt sogar extra für mich seine Deutschkenntnisse aus. Mit hinterm Rücken verschränkten Händen und bedeutungsschwerer Miene führt er seine Erläuterungen aus, wobei er das „r“ von „aberrr“ genüsslich rollt. Dass es keinerlei Sinn macht, was er da erzählt, ist dabei absolut zweitrangig.

Insgesamt fühlt sich meine Tätigkeit bei der Caritas verdächtig wenig nach Arbeit an: Ein bisschen spazieren gehen, ein paar pflegerische Aufgaben, ein bisschen Hausarbeit, ein bisschen kochen, ganz viel Essen und ganz viel Straßenbahn fahren.

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evamariawalther2 - 18. Sep, 13:51
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EvaMariaWalther - 10. Jun, 18:30
Nachtrag: Ganze 1 1/2...
Nachtrag: Ganze 1 1/2 Wochen hat meine Fahrsperre gedauert....
EvaMariaWalther - 10. Mär, 23:26
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EvaMariaWalther - 10. Mär, 23:21
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EvaMariaWalther - 2. Sep, 22:29

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