Sonntag, 2. Oktober 2011

Hody - Kerwevergnügen in Žebětin

Ich treffe recht spät ein, die Party ist schon in vollem Gange. Jana begrüßt mich überschwänglich und mit Umarmung, das ist sonst gar nicht so ihre Art. Aber heute ist Jana sichtlich gelöst, geradezu aufgedreht, genau wie alle anderen Besucher des gut gefüllten Jugendzentrums auch. Schließlich ist heute kein gewöhnlicher Tag. Heute sind die Hody in Žebětin, einem Stadtteil am Rande von Brno. Hody nennt man in Mähren die Kirchweih oder Kirmes, und die wird in diesen Breiten so laut und bunt gefeiert wie sonst nirgendwo. Und die Hody in Žebětin sind natürlich die besten. Das behaupten alle, die dieses gesellschaftliche Highlight schon mindestens einmal miterleben durften. Bereits Monate zuvor wurde ich eingeladen, und nach stundenlanden Vorschwärmen stand für mich auch bald fest, dass ich mir dieses Event auf keinen Fall entgehen lassen konnte.

Wir müssen nicht lange warten, da kommt auch schon David. Der sieht leider schon nicht mehr allzu frisch aus, was damit zusammenhängen könnte, dass die Feierlichkeiten schon gestern abend begonnen haben... Dabei hat David eine sehr wichtige Aufgabe; er spielt heute abend sozusagen den Mundschenk. Mit einer Fünf-Liter-Pulle billigen Weißweins und einem einzigen Glas läuft der durch den Raum. Wer etwas trinken möchte, dem macht er das Glas voll, und nicht selten schließt er sich aus Solidarität gleich an. Die Gläser sind recht klein, doch Achtung: Sie summieren sich im Laufe des Abends doch schneller, als man denkt! Zumal eine ganze Horde solcher Sommeliere im signifikanten weißen Leinenanzug herumrennen.

Da beginnt schon die erste Tanzdarbietung. An die dreißig Tanzpaare, die „stárky“, betreten das Tanzparkett in der Turnhalle, und mir fällt direkt mal die Kinnlade herunter: Alle stecken in einer traditionellen Tracht, die Mädels mit XXL-Puffärmeln und XXL-Reifröcken, die Jungs mit witzigen bunten Hüten auf dem Kopf.

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Die sind alle geliehen, erklärt Jana, leisten könne sich die aufwendig bestickten Gewänder niemand. Dann stimmt die Kapelle einen zünftigen Marsch an, die stárky stellen sich in kleinen Gruppen auf und beginnen zu tanzen, und zwar genauso, wie auf den Hody in Mähren schon seit vielen, vielen Jahren getanzt wird. Da wird im Kreis herum gewirbelt und immer wieder auf raffinierte Art und Weise der Tanzpartner gewechselt. Hier hat jeder Tanz, ja fast jeder Schritt seine Geschichte und Bedeutung. Was mich aber völlig überwältigt, ist die Tatsache, dass keiner der Protagonisten, weder unter den Tänzern, noch in der Blaskapelle, älter ist als 30 Jahre.

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In Deutschland sucht man eine solche Selbstverständlichkeit und Begeisterung bei Traditionspflege außerhalb Bayerns wohl vergeblich. Nach jedem Tanz stoßen alle Mädchen hohe, trillernde Töne aus, die sogenannten Juchzer. Am Ende der Tanzrunde folgt eine Art Sprechgesang: Einer ruft eine Frage in den Raum, die anderen antworten im Chor. Zum Glück sitzt die kompetente Eingeweihte Jana direkt neben mir und entschlüsselt das für mich rätselhafte Verhalten. Die Fragen sind jedes Jahr gleich und die Antworten einstudiert. Sie lauten „Wessen Hody sind das? – Unsere! Wessen stárky? – Unsere! Wie sind Schulden? – Sorgenvoll!“ Es folgt die Frage nach der Höhe des Baumes, der als Schmuck auf dem Marktplatz wie bei uns ein Maibaum aufgestellt wurde (25 Meter!) und nach den Namen des Hody-Prinzenpaares (Martin! Und Hana!), dann wird noch mal gejuchzt und die Tanzfläche für alle freigegeben.

Wer will kann jetzt Polka und dergleichen tanzen. Manchmal stellen sich auch alle im Kreis auf und singen Lieder, die irgendwie jeder kennt. Ein junger Mann sticht aus der Menge hervor: Er ist mindestens zwei Meter groß, hat Muskeln wie ein Actionheld und auch ungefähr das gleiche Mienenspiel. Ich frage Jana, ob sie ihn kennt. „Ja, natürlich... Der ist ein bisschen... seltsam. Er hat ein Hakenkreuz auf die Brust tätowiert!“

Da erzählt mir Jana leider nichts Neues. Rückblende: Gleicher Ort, drei Wochen zuvor. David hat uns zur allsamstäglichen Party im Jugendzentrum eingeladen, gerade haben noch die stárky für den großen Auftritt geprobt. Bald fließt das Bier in für Tschechien üblichen Mengen, die Leute spielen in der Turnhalle mit den großen Matten und dem Trampolin und tanzen drum herum.

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Der Hüne immer vorne mit dabei. Als ich das halb verdeckte Tatoo sehe, will ich meinen Augen kaum trauen, glaube an einen Irrtum. Ich frage nach. Das war ein Fehler. Bald schon muss ich mir eine Lobeshymne auf das deutsche Volk anhören, dass allen anderen, vor allem natürlich dem tschechischen, weit überlegen sei. Er selbst habe deutsche Wurzeln. Deutsch sprechen könne er freilich nicht. Er bemerkt mein Entsetzen und betont gleich, rassistisch sei er auch nicht, zumindest nicht Schwarzen oder Asiaten gegenüber. Mit den Zigeunern sei das natürlich etwas anderes. Was folgt ist die oft gehörte Leier von den faulen, dreckigen, kriminellen Roma. Mir fehlen zwar nicht die Argumente, wohl aber die Worte, zumal auf Tschechisch. In meiner Verzweiflung und aufkeimenden Wut im Bauch versuche ich es stattdessen mit einem bitterbösen skeptischen Blick. Zu meiner großen Überraschung funktioniert das; Mr Hakenkreuz will sich unbedingt erklären und redet sich dabei an die Wand. Er sei eigentlich schon gar nicht mehr so krass drauf wie früher. Als er sich das Tatoo stechen ließ, sei er noch jung und dumm gewesen. Und überhaupt sei das Hakenkreuz für ihn vor allem ein Symbol für den Kreislauf des Lebens. Aber mein Vorschlag, sich doch mal genauer mit Roma zu beschäftigen, vielleicht sogar mal mit einem zu reden, die seien nicht so schlimm, wie er denke, geht ihm dann doch zu weit. Mit einem Kopfschütteln wendet er sich ab. Ich atme erleichtert auf, aber der Abend ist mir verdorben.

Zurück auf den Hody. Auf dem Weg von der Toilette steht mir der Bodybuilder plötzlich im Weg. Wir stehen allein auf dem Flur, der Zugang zum Saal ist mir versperrt. Er lächelt nicht, schaut mich mit einem durchbohrenden Blick an. Dann nimmt er seine Weinflasche, schenkt ein Glas ein und streckt es mir hin. Ich zögere. Die Gedanken, die mir in genau diesem Moment duch den Kopf gehen, kommen mir im Nachhinein selbst ziemlich albern vor. Letztendlich habe ich das Glas ausgetrunken und auch gut vertragen. Diese Begegnung zu verarbeiten dauert ein wenig länger. Wollte er mich einschüchtern? Oder war es eine Versöhnungsgeste? Fest steht nur: Man sollte wirklich niemandem mit Vorurteilen begegnen, noch nicht einmal angeblichen Neonazis. Zumindest an einem so besonderen Tag wie heute.

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Lieber Herr Prof. Ehrle,...
Lieber Herr Prof. Ehrle, vielen Dank für ihr fortgesetztes...
evamariawalther2 - 18. Sep, 13:51
https://www.asf-ev.de/de/e inblicke/lebenszeichen-vom -freiwilligendienst/eva-ma ria-walther.html
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EvaMariaWalther - 10. Jun, 18:30
Nachtrag: Ganze 1 1/2...
Nachtrag: Ganze 1 1/2 Wochen hat meine Fahrsperre gedauert....
EvaMariaWalther - 10. Mär, 23:26
https://www.asf-ev.de/de/e inblicke/lebenszeichen/eva -maria-walther.html
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EvaMariaWalther - 10. Mär, 23:21
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