Sonntag, 15. Mai 2011

Alle bleiben!

Während in Frankreich letztes Jahr Massen auf die Straße gingen, um die Abschiebung von tausenden Roma nach Rumänien zu verhindern und damit europaweit Zustimmung ernteten, werden seit 2003 regelmäßig Roma aus Deutschland ausgeflogen – und kaum einer empört sich.

Bis 2013 sollen knapp 10 000 Roma aus der Bundesrepublik abgeschoben werden. Es handelt sich um Flüchtlinge, die in den frühen 90ger Jahren Krieg, Vertreibung und dem Völkermord im damaligen Jugoslawien entkommen konnten. Seit fast 20 Jahren leben diese Menschen nun schon in Deutschland, ihre Kinder haben zum größten Teil nie Serbisch oder Albanisch gelernt. Um ihre Rückkehr zu ermöglichen, hat der Kosovo zwar ein Rückübernahmeabkommen unterzeichnet. Gewartet hat dort allerdings niemand auf sie. Stattdessen erwartet sie, wie vor 20 Jahren, Hass und Ausgrenzung durch die Mehrheitsgesellschaft. Die Romasiedlungen wurden seinerzeit größtenteils dem Erdboden gleichgemacht, die Aussicht auf Bildung, Arbeit und Gesundheitsfürsorge sind denkbar gering.

Wie groß wäre der wirtschaftliche Schaden für Deutschland, sollte es die Roma hierbehalten? Denkbar gering, es sind ja gerade einmal 10 000. Die Politik müsste über diesen Umstand durchaus informiert sein, bleibt aber passiv. Wahrscheinlich genau deshalb: Weil es gerade einmal 10 000 Menschen betrifft.

Die betrifft es dafür umso mehr. Eine Abschiebung ist jedes Mal eine menschliche Tragödie. Dass darüber kaum einer Bescheid weiß, die Medien kaum berichten und sich somit kaum Widerstand formieren kann, könnte damit zusammenhängen, dass Antiziganismus, also die Ressentiments gegenüber Menschen, die als Zigeuner stigmatisiert werden, in unseren Tagen die am weitesten Verbreitete Form von Rassismus ist. Ja, in vielen Ländern Europas ist sie beinahe schon gesellschaftlicher Konsens.

Die von Romaverbänden gestartete Initiative „Alle bleiben“ gestalten sich daher als schwierig. 10 000 Unterschriften sollen bis Jahresende zusammen mit einer Petition bei der Bundesregierung eingereicht werden, 2500 sind es bis jetzt.
Zusammen mit ASF wollen sie jetzt den evangelischen Kirchentag, der im Juni in Dresen stattfindet, nutzen, um ein breites Publikum auf ihr Anliegen aufmerksam zu machen.

Spannende und lustige Tage in Dresen.
P1000461
Und wie macht man große Mengen an Menschen auf sich aufmerksam? Natürlich mit Straßentheater! So zumindest der Plan des Kampagnenteams von ASF, der sich an einem sonnigen Maiwochenende zwecks Vorbereitung zum ersten Mal in Dresden traf (und der rein zufällig auch ich angehöre). Los ging´s aber erst mal mit Tortellini und gegenseitigem Kennenlernen im evangelischen Gemeindezentrum des Stadtteils Trachau. Die ebenso nette wie motivierte Gruppe setzt sich vor allem aus Mitgliedern der Regionalgruppe Sachsen, aktuellen Tschechienfreiwilligen und einer Delegation aus Berlin zusammen. Von der Roma-Organisation Amaro Drom hatten sich ebenfalls 5 Vertreter angekündigt, die allerdings noch etwas auf sich warten ließen. So ließen wir uns erst mal von Dipl. Pol. Markus End, dem eigens angereisten Wissenschaftler am berliner Zentrum für Antisemitismusforschung und Experten für Antiziganismus, auf seinem Fachgebiet schlau machen. Erschreckend, zu hören, wie viele tätliche Übergriffe, Brandanschläge auf Roma es in den vergangenen Jahren nicht nur in Tschechien, der Slowakei und Ungarn, sondern auch in Deutschland gab. Oder dass sich vielerorts in Stadtteilen mit großer Romapopulation Bürgerinitiativen gründen, um über einen Umgang mit dem „Problem“ zu diskutieren – freilich unter Ausschluss der Angesprochenen. Markus forscht zum Thema „Romabild in der Mehrheitsgesellschaft“ und befindet, dass sich alle Vorurteile gegenüber sogenannten „Zigeunern“ auf zwei Aspekte herunterbrechen lassen: deren angenommene Heimatlosigkeit (Zugehörigkeit weder zur eigenen, noch zu einer anderen Gesellschaft) und deren unterstelltes Parasitentum (Klauen, Betteln, Schmarotzen als ungebetener Gast in der Gesellschaft). Diese ebenso negativen wie falschen Vorstellungen existieren in Deutschland seit dem 16. Jahrhundert quasi unverändert.

Keine halbe Stunde nach diesem anregenden Vortrag treffen die Roma ein: Sechs Stunden später als vereinbart und außerdem nur zu zweit anstatt zu fünft. Eine Stimme irgendwo in meinem Kopf gibt ein leicht verächtliches „typisch“ von sich. Ich ertappe mich dabei und rüge mich sofort dafür. Mir erging es jedoch nicht alleine so – in einem Gespräch in gemütlicher Runde am nächsten Abend geben einige ASFler zu, im ersten Moment ähnliche Gedanken gehabt zu haben. Gemeinsam erschrecken wir darüber, wie viel Selbstdisziplin und Konzentration manchmal nötig ist, um sein Denken ganz von bestimmten Mustern frei zu halten – selbst bei Menschen, die sich aktiv gegen Rassismus einsetzten.

Spätestens, nachdem wir Esso und Issi, die neu angekommenen Gäste, genauer kennen gelernt haben, ist es damit natürlich vorbei.
Am nächsten Morgen hat Esso seinen großen Auftritt: Er zeigt ein Video von den Aktionen des Romazentrums in Göttingen, in dem er sich engagiert. Musik Gesang, Tanz, aufgeregtes Geplauder in Deutsch und Romani, Gelächter und Ausgelassenheit sind da zu sehen. Dann folgt ein zweiter Film, der abgeschobene Familien im Kosovo zeigt. Jugendliche und Kinder sitzen in heruntergekommenen Wohnungen und erzählen in fehlerfreiem Deutsch von Arbeitslosigkeit, Dreck, Armut und Gefängnisaufenthalten. Dann ergreift Esso das Wort, echauffiert sich über Schikane durch die Politik, Rassismus in der Bevölkerung, systematische Diskriminierung, zerstörte Existenzen im Kosovo. Dabei schießt er vielleicht ein paar Mal etwas über das Ziel hinaus, aber das kann man einem, der sich schon von vielen Freunden und Verwandten verabschieden musste, beim besten Willen nicht übel nehmen. Umso motivierter macht sich die ganze Gruppe gleich im Anschluss an die Arbeit.

Der nächste Programmpunkt ist nun endlich der Theaterworkshop unter der Anleitung von Frank Hohl. Innerhalb eines Tages vollbring der freischaffende Theaterpädagoge ein kleines Wunder: Stundenlang und unermüdlich tollt die bunt gemischte Gruppe, aus der kaum einer vorher schon Erfahrungen auf dem Gebiet der Schauspielerei gesammelt hat, über den Rasen vor der Kirche; wir rennen, schleichen, bauen Standbilder, produzieren alberne Geräusche und Bewegungen und bauen dabei sicher die eine oder andere Blockade ab. Am Ende des Tages sind schließlich acht kleine, aber ausdrucksstarke Szenen entstanden, die sich allesamt um das Thema Abschiebung drehen: Da ist Leid und Abschied zu sehen, Integration und Assimilation, Ausgrenzung und Entwurzelung, Wut und Fassungslosigkeit. Und das alles ohne Worte. Wer sich interessiert, möge zum Kirchentag kommen und sich mit eigenen Augen überzeugen.
P1000470
Hochzufrieden mit dem vollbrachten freuen wir uns auf einen gemütlichen Ausklang des Abends, als Esso eine SMS erhält: Eine befreundete Familie hat den so gefürchteten Brief bekommen. Sie soll in Kürze abgeschoben werden. Die zwei Roma zögern nicht lange, sie packen ihre Sachen und fahren zurück nach Göttingen, um der Familie mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Die Realität drängt sich auf einmal mit Macht in unsere kleine Gruppe. Abschiebungen passieren wirklich in Deutschland, immer wieder. Es wird Zeit, dass diese höchst fragwürdige Unternehmung endlich aufhört! Wer sich berufen fühlen sollte, selbst aktiv zu werden, findet auf der folgenden Seite alle nötigen Unterlagen, um selbst auf Unterschriftenjagd zu gehen: http://www.alle-bleiben.info/info-pro.htm

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

Wie treffend, wie treffend...
Bin heute nach Darmstadt in meine neue WG gezogen,...
Teresa Nowak - 3. Okt, 20:39
Die Woche der LETZTEN...
Sonntag: Zum letzten Mal mit allen Tschechien-ASF-Freiwillige n...
Eva W. - 3. Okt, 00:09
Hody - Kerwevergnügen...
Ich treffe recht spät ein, die Party ist schon in vollem...
Eva W. - 2. Okt, 19:54
Urlaub in Rumänien -...
Rumänien und die Taxifahrer. Es ist ja nicht so, als...
Eva W. - 2. Okt, 19:32
Liebes Reisetagebuch,
Donnerstag heute sind wir zu unserer kleinen Polenreise...
Eva W. - 12. Jul, 13:24

Meine Kommentare

Lieber Herr Prof. Ehrle,...
Lieber Herr Prof. Ehrle, vielen Dank für ihr fortgesetztes...
evamariawalther2 - 18. Sep, 13:51
https://www.asf-ev.de/de/e inblicke/lebenszeichen-vom -freiwilligendienst/eva-ma ria-walther.html
https://www.asf-ev.de/de/e inblicke/lebenszeichen-vom -freiwilligendienst/eva-ma ria-walther.html
EvaMariaWalther - 10. Jun, 18:30
Nachtrag: Ganze 1 1/2...
Nachtrag: Ganze 1 1/2 Wochen hat meine Fahrsperre gedauert....
EvaMariaWalther - 10. Mär, 23:26
https://www.asf-ev.de/de/e inblicke/lebenszeichen/eva -maria-walther.html
https://www.asf-ev.de/de/e inblicke/lebenszeichen/eva -maria-walther.html
EvaMariaWalther - 10. Mär, 23:21
Dieser Artikel sowie...
Dieser Artikel sowie alle darin handelnden Personen...
EvaMariaWalther - 2. Sep, 22:29

Suche

 

Status

Online seit 5014 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 21. Mai, 18:54

Credits


Arbeit
ASF
Brno
Freizeit
Vorbereitung
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren